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Drei Essays


Georg Solz





© Gregorius Vatis Advena 2010, Record T 1, Engl. Three Essays on History, January 2010 to September 2010, Hamburg, revised 2015, German.




Drei Essays über Geschichte

Thema


Die Bedeutung von Geschichte wird oft vernachlässigt. Historiker forschen, ohne Geschichte zu definieren. Allgemeine Vorstellungen über Zeit und Vergangenheit sind bei näherer Betrachtung nicht selbstverständlich. Wie geht man mit Geschichte um?


Image: Paul Jenkings: Phenomena wind leaves no shadow, 1977, Paris, Centre Pompidou.


Die Drei Essays über Geschichte sind theoretische Betrachtungen über Geschichte als Realität, Wahrnehmung und Tätigkeit. Der Begriff Geschichte behandelt die Definition von Geschichte, Zeit und Vergangenheit, sowie ihre Folgen für die historische Arbeit. Geschichte und Existenz fokussiert auf die subjektive Wahrnehmung von Geschichte und ihre sozial-ethischen Dimensionen.




I. »Brouillards«, Préludes, Buch II, Claude Debussy, gespielt von Ivan Ilic – Musopen CC BY-NC-ND 3.0.




Drittens handelt Kunst der Geschichtsschreibung von den unorthodoxen Möglichkeiten der Geschichtsdarstellung. Die Sprache der drei Essays ist erzählerisch und zuweilen humorvoll, intendiert als Rahmen für eine Meta-Reflexion.










INDEX



I. Der Begriff Geschichte

Da die meisten Abhandlungen zur Definition des Bauwerkes, das wir Geschichte nennen, von hohen Stockwerken aus beginnen und Landschaften voller Theorien und Fachbegriffe vor die Augen der Fragenden werfen, möchte ich dieses Gebäude über die Hintertreppe betreten und fürs Erste fragen, was das Wort überhaupt bedeute.



II. Geschichte und Existenz

Ein existenzphilosophischer Zugang zur Geschichte wird dadurch erschwert, dass es in erster Linie nicht die Aufgabe einer Erzählung ist, Existenz zu definieren oder zu erklären. Geschichte als die Manifestation eines allgemeineren Seins zu verstehen, eines Wesens des Menschenlebens, „in jeder Gegenwart ganz vorhanden“, wie Schopenhauer schrieb, setzt allerdings eine Annäherung an die Existenzphilosophie voraus.



III. Kunst der Geschichtsschreibung

Wir sollen nicht über das Schöne zanken. Die Pragmatik der alttestamentarischen Liedermacher hätte Aristoteles zu schaffen gemacht, das ist ja wohl bekannt, und dennoch kamen jene ersten Dinosaurier der Kunst mit der Begrenztheit ihrer Mittel ziemlich gut klar. Sie brauchten keine Wagneroper, sie zogen dem famosen Beiwerk eine rigide künstlerische Diät vor.




Folium II






Der Begriff Geschichte





Da die meisten Abhandlungen zur Definition des Bauwerkes, das wir Geschichte nennen, von hohen Stockwerken aus beginnen und Landschaften voller Theorien und Fachbegriffe vor die Augen der Fragenden werfen, möchte ich dieses Gebäude über die Hintertreppe betreten und fürs Erste fragen, was das Wort überhaupt bedeute. Die Antwort mag erstaunlich klingen: Geschichte ist zunächst der Gegenstand eines Gespräches, was solche Wendungen wie „was für eine Geschichte erzählst du?“ oder „das ist eine andere Geschichte“ erkennen lassen.

Steigen wir die Treppen hinauf, betreten wir weitere Ebenen des Gedankens: Geschichte ist die Erzählung über eine Welt, episch und zugleich an das Mögliche grenzend, wo die Helden eines Erzählenden handeln. Geschichte ist ein Grundriss theologischen Wissens: die Geschichte Jesu im Neuen, Israels im Alten Testament. Geschichte ist der erstellte Zusammenhang von und zwischen Ereignissen, die der Historiker belegen will, „la science de l’homme dans le temps“ in den Worten Marc Blochs. Geschichte ist überdies der Gegenstand philosophischer Gespräche, wie etwa das Mutmaßen über die Frage, ob der Menschen Tun und Leiden einen Sinn ergebe.



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Philologisch vom Althochdeutschen gisciht (Geschehnis, Ereignis) stammend, erhielt der Begriff allmählich die kulturelle Ausprägung, genauer erläutert die Dichotomie des Griechisch-Lateinischen historia, welches sowohl die res gestae (die getanen Sachen) als auch die memoria rerum gestarum (die Erinnerung daran) bezeichnet.

Im Georges-Wörterbuch erscheint historia als „die Kunde, die Kenntnis, z. B. si quid in ea epistula fuit historia dignum, Cic. ad Att. 2, 8, 1.“ In übertragenem Sinne erscheint das Wort als „die schriftliche oder mündliche Erzählung von etwas Gesehenem oder Gehörtem, eine Geschichte, eine Mythe“, wie bei Horaz im Ausdruck „maxima de nihilo fiet historia“ (man macht eine riesige Geschichte aus nichts). Auch in der Bedeutung von „Gegenstand eines Gespräches“ ist das Wort vertreten. Insbesondere ist historia als „die systematische Darstellung von Geschichten, die Geschichte, ein Geschichtswerk, und zwar sowohl die geschichtlich beglaubigte Erzählung einzelner Sagen und Begebenheiten (als ein Ganzes, Ggstz. fabula) als auch der gesamte Inhalt der Vergangenheit.“ Im Grunde unterscheidet sich der Gebrauch von historia kaum vom griechischen Original.



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Es bleibt festzuhalten, dass die Grenze zwischen Fiktion und Fakten nicht deutlich gezogen wird. Man beachte Ausdrücke wie historiam [res gestae] scribere (Cic.), historias scribere (Nep.), und illorum temporum historiam [memoriam rerum gestarum] relinquere (Nep.), historiam edere (Suet.). Schon bei Sallust steht der Ausdruck „memoria rerum gestarum“: ceterum ex aliis negotiis, quae ingenio exercentur, in primis magno usui est memoria rerum gestarum, Sall, Iug, 4.1. Gleiches gilt für den Ausdruck „res gestas scribere“: ac mihi quidem, tametsi haudquaquam par gloria sequitur scriptorem et auctorem rerum, tamen in primis arduom videtur res gestas scribere, Sall, Cat. 3. Also sind die Ausdrücke „res gestas scribere“ (Sall.) und „historiam scribere“ (Cic.) austauschbar.

Nachdem die Treppen sorgfältig hinaufgestiegen sind, stößt die Fragende auf eine Eigenschaft, die den verschiedenen Anwendungen des Wortes, vom Alltag unter den gewöhnlichen Farben der Straßenbahnen bis zu den Dimensionen phantasmagorischer Fachbegriffe, gemeinsam ist – die Erzählung. Die Geschichte einer kleinen Seejungfrau mag zwar nicht auf wirklicher Erfahrung beruhen, in einer Märchenwelt spielen, und dennoch bleibt sie Geschichte, weil sie in der und für die Welt der Straßenbahnen, in der wir leben oder zu leben glauben, durch Wort oder Schrift – das Mittel ist einerlei – erzählt wird. Das schnee- und blutumhüllte Märchen einer Schlacht um Königsberg mag andererseits auf wirklicher Erfahrung beruhen, mancher sich ihrer besinnen. Ob dieses Märchen eine wirklichere Substanz als die Geschichte jener kleinen Seejungfrau besitzt, ist eine schwierige Frage.



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Es stellt eine schmerzhafte und jedoch unwiderlegbare Erkenntnis dar, dass eine Schlacht noch keine Geschichte ausmacht – selbst wenn jeder sich an sie erinnert. Geschichte entsteht im Sprechen, im Schreiben über die Schlacht. Das Erlebnis bedeutet nur eine persönliche Erfahrung, während Geschichte ihrerseits keine Erfahrung, sondern Erzählung, den mündlichen Vortrag oder schriftliche Niederlegung von Handlungen umfasst. Nur im eigenwilligen Gewand der Sprache wird die Erfahrung, derer das Sinnen sich erinnert, zu Geschichte. Ohne diese verliert sich die Erfahrung in einem undankbar rasch vergehenden Augenblick, den nicht die mächtigste Metaphysik von Hirn und Maschinen zu erfassen vermag. Was bleibt, wenn etwas bleibt, sind Erinnerungen, von denen einige bald zum vergangenen Moment werden und andere, zum Glück oder Unheil der Zeiten, in Erzählungen münden, eine Nische des Trotzes finden – in einer Welt, wo das Vergessen größer als das Erinnern, das Schweigen mächtiger als die Sprache ist.



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„All th[e] creative power of the mind,“ behauptete David Hume, „amounts to no more than the faculty of compounding, transposing, augmenting, or diminishing the materials afforded us by the senses and experience.“ Eine nicht erlebte Vergangenheit ontologisch vorauszusetzen stellt sich als ein voreiliges Verfahren heraus. Die einzige Vorstellung des Vergangenen, deren Zustand einer Art Existenz ähneln mag, bildet jene von unserer Erinnerung besessene – persönliche Erfahrung genannt. Die Erinnerung an das Einzelne, so wahr sie im Inneren sein möchte, existiert indes in der Gegenwart. Der Geist malt sich seine Bilder, erzählt sich die Märchen und Epen des Vergangenen. Über dieses Gemälde, wahrhaftig schön und lebendig im Rahmen der sie vorstellenden Kraft, dürfen wir zwar annehmen, dass sie mit den Farben einer Erfahrung geprägt sind. Wir erlangen aber keine Sicherheit darüber, dass sich solche Erinnerungen unfehlbar zeigen können. Aus Gewohnheit – und was ist das Schlechte daran? – wollen wir mehr oder weniger beharrlich an eigene Erinnerungen glauben. Es erquickt das Gemüt, Erinnerungen zu nähren, hartnäckig danach zu streben, alles Vergehen zu verhindern und Bilder zu verewigen. Von Letzteren sind allerdings nur die Farben wirklich, Flächen, die uns weniger die Vergangenheit als eine empfindsame Sehnsucht nach Vergangenheit, Leid und Freude geben. Erfreut uns zu erinnern, sehnen wir uns – quält uns zu erinnern, sehnen wir uns. Und dennoch ist das Erinnerte nicht das Gewesene, sondern nur Sehnsucht.



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Aber in der Erinnerung, wird ein Kritiker einwenden, ist Zeiterfahrung einbegriffen – eine ungenaue Aussage. Die Zeit existiert in der Erinnerung wie in allen Vorstellungen, aber nicht zwingend außerhalb der Abstraktion, die Hegel als das an- und fürsichseiende Wesen, welches sich zugleich als Bewusstsein wirklich und sich sich selbst vorstellt, definiert. David Hume unterteilt seinerseits das Denken in Eindruck und Vorstellung, wobei nur der Eindruck unmittelbare Erfahrung vermittele, während die Erinnerung an Erfahrungen nur eine Vorstellung sei. Selbst die unmittelbare, vom Eindruck vermittelte Erfahrung, erzeigt sich nicht immer als sicher. Ihre Fehlbarkeit zeigt René Descartes in der ersten Meditation über die Existenz Gottes. Jedenfalls sind Größen wie Eindruck und Vorstellung, Erfahrung und Erinnerung, höchst persönlich, und die Zeit, die alle solche in eine scheinbar harmonische Ordnung bringt, versteht auch Kant wahrscheinlich mit Recht so, dass sie nicht etwas ist, „was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge, mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahiert.“ Andernfalls wäre die Zeit tatsächlich etwas, „was ohne wirklichen Gegenstand dennoch wirklich wäre.“ Die Zeiterfahrung innerhalb der Erinnerung ist also die Erfahrung einer sensiblen Subjektivität.



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Geschichte ereignet sich unabhängig von Vergangenheit, dem klassischen Versuch, die Wirklichkeit des Getanen zu erfassen. Ob es eine römische Vergangenheit gab, wissen wir in ontologischen Begriffen nicht. Wir wissen nur, dass es eine römische Geschichte gibt, und eine solche, die auch dann fortbestehen wird, wenn es keine römische Vergangenheit gab. Getan ist nur, was wir als solches denken, die Welt nur Welt, solange wir sie als solche deuten. Ein Stück Papier, ein Stein beweist nichts – weder Papiere noch Steine möchten den Auftrag erfüllen, Quellen irgendeiner Vergangenheit zu sein, sondern wir allein, bloße Zutaten des universellen Durcheinanders, atmen als die Quellen unserer Welt, eigenwillige Menschen, ständig darauf bedacht, unsere Geschichte bald in ungewöhnlichen, bald in einfachen Orten – überall, da wir sie suchen – zu finden. Aber auch die Welt, wird man mit einer Grundannahme des Materialismus einwenden, beeinflusst uns. Das sollten wir nicht bestreiten. Ich erinnere aber gern an Descartes: Wir wissen, dass wir sind, weil wir wissen, dass wir denken. Wir wissen aber nicht recht, was die Welt sei. Wir glauben, sie zu erfahren und vertrauen dabei dem Fehlbaren, durch welches der Geist es allein vermag, sich in der Wirklichkeit oder im Traum, in dem er sich befindet, zu bestimmen: den Sinnen. Aber genug von Descartes.



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Die bloße Abfolge der Bewegungen eines bestimmten Subjektes, eine sich zufällig gerade zutragende Handlung kann sich nicht selbst erzählen, nicht eines schaffenden, deutenden Erzählers entbehren, der jenen Farben, dem werdenden Kern der Schilderung, Inhalt verleiht, sie zu einem Wesen werden lässt. Was jener erzählt, dies wird seine, oder mindestens eine Geschichte sein, denn die ganze Ordnung der Handlung, deren das Erzählen in irgend einer Gestalt bedarf, entsteht mitten in der Narration, die jene Handlung als solche benennt und bearbeitet. Aus einer derartigen Arbeit ergeben sich in jeder Erzählung einerseits die Zeit als eine literarische Größe, relativ und flexibel, von der ordnenden Mühe des Erzählers entsprungen, und andererseits ganze Welten lang oder kurz spielender Geschichten als Einheiten für die Darstellung einer Handlung, ob Märchen oder Schlachten, erfunden.

Sicherlich gibt es, werden andere an dieser Stelle erwidern, Geschichten außerhalb von Texten. Viele wollen an dem Glauben festhalten, antik und beharrlich, dass etwa archäologische Befunde Beweise für wirkliche Vergangenheit, für Handlung ohne Erzählung darstellten – als ob diese Forscher nicht gehalten wären zu erzählen, was sie sehen, im Text ihrer Ausgrabungen etwas anderes als das erkennen, was sie dort immer erkennen wollten. Ein Text bedeutet mehr als Tinte auf Papier, denn auch Gräber und Säule können wir lesen. Ob jemand an einer Säule die Ruinen von Troja oder vom Parnass erkennt, geht nicht mit der Säule allein, sondern zuvörderst mit den das Bauwerk lesenden Augen einher. Ein ähnlicher Gedanken lässt sich auch auf Naturwissenschaften übertragen, solange etwa der Geologe die Schichten in der Erde liest, die er sich dort lesen lehrt, und solange die Geräte des Arztes ihn seiner fehlbaren Sinne nicht entbinden, die jedes streng wissenschaftlichen Gerätes spottet – seitdem auch Geräte nichts mehr als Texte sind. Keine Wissenschaft wird eine äußere, undurchdringliche Welt mit sicheren Mitteln erfahren. Wird also irgendeine Wissenschaft tatsächlich die „Wahrheit der Welt“ erfahren?



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Der archäologische Befund, wird vielleicht eine Kritikerin erwidern, lässt sich jedoch nur deuten, wenn er tatsächlich vorhanden ist, und die Deutung macht ihn zur historischen Tatsache. Hier stoßen wir auf ein Problem. Wenn wir nur deuten können, was tatsächlich vorhanden ist, können wir gar nichts deuten, und müssten zuerst wissen, was außerhalb des Geistes sich befindet. Glücklicherweise überwand die Phänomenologie die langweilige Dichotomie zwischen Schein und Sein durch die Vorstellung des Phänomens, und es ist nicht meine Absicht zu vertreten, dass es etwa nur den Geist gibt. Ich beschränke mich auf einen sehr gewöhnlichen Pragmatismus. Unsere Sinne sind unsichere Quellen. Sicher können nur die Eindrücke sein, welche die Sinne vermitteln, aber es bleibt stets ungewiss, ob Eindrücke der Wahrheit entsprechen. Wir sehen eine Scherbe vor uns und wir dürfen sie deuten, ohne dafür wissen zu müssen, ob das Stück tatsächlich vorhanden ist. Wir dürfen die Existenz der Scherbe annehmen, dem Eindruck Glauben schenken, und dem Eindruck müssen wir zunächst nicht widersprechen. Vergangenheit indessen müssen wir nicht voraussetzen, damit Deutung von Eindrücken möglich sei.



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Ohne den Versuch zu unterfangen, die Strukturen des Geistes in seinem Kern zu beschreiben, unterscheiden wir für rein pragmatische Zwecke u. a. Verstand und Sinnlichkeit. Von den Gegenständen werden wir durch die Sinne affiziert. So fehlbar diese sind, bleibt der Verstand ohne sie unvollständig. Es ist fraglich, ob der Mensch, der seine Sinne nie gebrauchen mochte, wissen kann, dass er denkt und ist, und so fraglich wie andererseits die Aussage, dass allein vollständige Sinne uns Wissen verleihen. Hören und sehen, schmecken, riechen, tasten kann auch der Hund, und daraus folgt nicht, dass der Hund notwendigerweise erzähle oder argumentiere. Die Sinne verkörpern also keine hinreichende Bedingung für die Entstehung der Vernunft als Quelle abstrakter Vorstellungen, vielmehr nur eine notwendige Bedingung dafür. Es sind in der Tat die Sinne, es ist Erfahrung, die das Denken zum Verstand, den Verstand zur Vernunft anspornen. Vorstellen kann man sich zunächst nur, was man erfahren kann. Denken ist ursprünglich denken über unmittelbare Erfahrungen. Erst später reift die Vernunft und bedarf der Erfahrung für viele Betrachtungen nicht mehr. Als Antwort auf Humes Empirismus erläutert Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft: „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis m i t der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung.“ Die abstrakten Vorstellungen mögen über Handlungen erzählen, an die sich dieselben Vorstellungen nicht erinnern müssen, etwa erdichtete Handlungen. Indes unsere ersten Erzählungen, wie jene des Kindes, sind Schilderungen des persönlich Erfahrenen.



Der Begriff Geschichte Folium III






Jene Gattung, welche den ausdrücklichen Anspruch erhebt, über eine wahre Vergangenheit zu erzählen, stellt keine besondere, von den anderen abgehobene dar. Grundsätzlich erheben alle Geschichten den Anspruch, wahr zu sein, eine Forderung, die zu den rhetorischen Eigentümlichkeiten aller Geschichten gehört, da selbst Märchen nicht behaupten möchten, dass sie den Lesern schlechthin Lügen vorstellen. Der Historiker, der die Tragik einer solch schwierigen Abgrenzung erkennt, ist insofern verzweifelt darauf erpicht, Merkmale aufzustellen, die eine Geschichte als wahr oder wahrscheinlich einzustufen imstande seien. Wir haben z.B. beobachtet, dass Erzählungen Handlungen erzählen. Hier setzt ein beliebter Gedankengang an: Die Erzählung muss sich in vielen Quellen erzählt finden. Handlungen wie „Die Blumen der kleinen Ida“, von Andersen vorgestellt, werden nur einmal erzählt – andere hingegen so oft, dass die Leserin glauben will, sie fänden in ihrer wirklichen, weil eigenen Welt statt. Es entsteht für eine bestimmte Handlung – eine Schlacht, wenn Sie wollen – eine historisierende Tradition ähnlicher Berichte, wobei jede neue Darstellung an die Tradition sich anpassen, Inhalte miteinander übereinstimmen müssen, während Änderungen sich nur allmählich durchsetzen; und nebst dieser Tradition von Erzählungen eine Tradition von Besprechungen über einzelne Erzählungen, letztere miteinander vergleichend und bewertend. Auch hier muss sich jede neue Besprechung mit der gegebenen Tradition auseinandersetzen. Dass so viele Darstellungen über einen einzigen Sachverhalt vorliegen, reizt die forschenden Gemüter. Stellt dies aber eine entscheidende Rechtfertigung für den erhobenen Wahrheitsanspruch dar, der ursprünglich die Geschichten des Historikers von allen anderen unterscheiden sollte? Meine Antwort lautet: Zunächst Nein, aber vielleicht Ja unter einem Gesichtspunkt, den ich am Ende dieses Essays beleuchten werde.



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Wie dem auch sei: Traditionen können zufällig und willkürlich entstehen. Jeder Tag bringt neue Gerüchte mit sich, wie die Presse es beweist, und nicht nur die Presse, sondern unser eigener Mund wird oft berichten mögen, was die Augen hie und da gesehen – den kleinen Autounfall vor der Ampel, die schlechte Laune des Gärtners, den Höhepunkt des Vortrages. Und dennoch wird jeder weitere Mund, der sich zu derselben gesehenen Handlung äußert, die Erfahrung, gesetzt der Fall, es liegt Erfahrung vor, anders wahrgenommen haben und entsprechend verbreiten. Die Fremden, die es nicht erlebt haben werden, sich dessen nicht werden erinnern können, werden nicht die Erfahrung, sondern nur die mündliche Überlieferung zur Verfügung des Urteils haben. Sie werden keine empirische Unterscheidung zwischen diesen Erzählungen und denen über Dornröschen erstellen können – auch nicht durch materielle Spuren, denn diese bedürfen ebenfalls der Deutung. Aber bis sich all das ereignet, werden diese Mund-zu-Mund-Geschichten schon so oft erzählt worden sein, dass alle werden glauben wollen, sie hätten mindestens den Kern einer Wahrheit, einer Wirklichkeit erfasst, weil so vieles übereinstimme. Gibt es einen solchen Kern? Es ist in der Tat schwer, sich vom Glauben zu befreien, dass wir eine wahre Vergangenheit haben, und großartig das Gefühl, Teil einer Vergangenheit, so alt wie „die Welt“, zu sein. Letztlich verbietet es sich nicht, an Erzählungen zu glauben.



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Woran sollten wir glauben? Anhand der uns spärlich gegebenen Werkzeuge der Sinne und der gegenwärtigen Erinnerung als deutenden Verstandes haben wir folgende urteilende Möglichkeiten, mit Erzählungen umzugehen: I. Berichten wir selbst über gegenwärtige Handlungen, von uns selbst erfahren, dürfen wir annehmen, dass wir Wirkliches verbreiten, wohl wissend, dass die Sinne betrügen können. II. Erzählen wir über eine Handlung, die wir nicht selbst erfuhren, können wir nicht wissen, ob sie wirklich sei. III. Lesen wir eine Handlung, in der wir als Personen auftreten, können wir prüfen, inwiefern unsere Erinnerung diese billigt. IV. Lesen wir eine Geschichte, an die wir uns nicht persönlich erinnern, können wir nicht erwarten, Geschehenes zu erkennen.

Wie kann man bloß behaupten, wird die empörte Kritikerin fragen, es gebe keine Vergangenheit? Hier vor uns, auf diesem Tische liegt der Bericht des Tacitus, ausführlich und seit der Antike überliefert, über den verheerenden Brand in Rom, eine Quelle, die schon Mönche im Mittelalter, Humanisten der Renaissance, Gelehrte, Historiker der Aufklärung, Meister des Historismus, Vertreter des Strukturalismus lasen, ein gigantisches Werk, das die Fülle der Zeit überdauernd uns in voller Kraft erreicht hat. – Dieser Einwand mag ein beeindruckendes Beispiel für die Überlieferung einer durchaus anerkannten Quelle darstellen. Aber die Überlieferung, sobald diese die Grenzen der Gegenwart verlässt, muss leider auch erzählt werden. Der Bericht des Tacitus, gerade auf dem Tisch liegend, wir wissen nicht, woher er komme, sondern nur, dass er dort liegt, und jeder dürfte ihn so lesen, als lese sie oder er den Bericht einer heutigen Zeitung. Die Kritiker werden uns Mangel an Kritik vorwerfen. Die höchste Kritik in jeder Erforschung findet sich jedoch im Erkennen des Möglichen. Möglich ist in diesem Falle lediglich die Erkenntnis, dass es eine Tradition von Erzählungen über den Bericht des Tacitus zum Römer Brand und über die Überlieferung desselben gibt, und dass es Besprechungen über diese gibt. Dies bedeutet noch keinen ontologischen Beweis für das Vorhandensein des Tacitus und des Brandes in Rom, solange niemand, diese Erzählung gerade lesend, deren Handlung als persönliche Erfahrung wahrzunehmen imstande ist, niemand sich dort wiederfindet, sodass noch keine Erfahrung beweist, dass dieselbe Erzählung getane, da gewesene Sache sei.



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Die sogenannten Quellen, wenngleich sie als Quellen von Handlungen bezeichnet werden mögen, müssen nicht als Quellen (aus) der Vergangenheit verstanden werden. Die Unterscheidung zwischen Quelle und Literatur erweist sich nach zeitlichen Maßstäben als kaum möglich. Es gibt sicherlich eine deutliche, narratologische Unterscheidung zwischen Quelle und Literatur. Literatur hat nie einen Zweck für sich, ihr Zweck ist immer die Quelle. Die Quelle besitzt aber einen Zweck, nämlich den, welchen die Literatur zu erkennen beabsichtigt. Dies stellt aber keine Unterscheidung nach zeitlichen Maßstäben dar, abgesehen von der Voraussetzung einer literarischen Zeitlichkeit, in der Gedeutetes logischerweise Deutendem vorangeht.

Eine kritische Stimme wird hier mit harten Tönen versetzen: Ich weiß nicht, was meine Eltern in ihrer Kindheit erlebten. Dies erfuhr ich nicht selbst, aber sie erzählten mir ihre Vergangenheit, und warum soll ich daran zweifeln, dass es diese gab? Und wenn meine Eltern mir ihre Vergangenheit erzählten, soll ich daran zweifeln, dass meine Eltern Eltern hatten, die ihnen ihre Vergangenheit erzählten, und dass die Eltern meiner Eltern Eltern hatten, die dasselbe taten? Gewiss nicht. Ich wüsste nicht, warum daran zweifeln, dass meine Eltern weniger Menschen sind als ich, und zwar dergestalt, dass sie die Welt durch andere Sinne erführen als durch die Sinne, die ich besitze. –



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Dass wir Vergangenheit nicht erfahren können, heißt freilich nicht, dass wir ihr Vorhandensein ausschließen sollen. Unterscheiden müssen wir zunächst die zwei möglichen Arten der Vergangenheit: Erinnerung oder Erahnung. In beiden ist sie nicht Erfahrung, nicht unmittelbarer Eindruck, vielmehr nur Vorstellung. Die Erinnerung kann sich mit gewissen Schwächen auf Erfahrung beziehen, während die bloße Erahnung dasselbe nicht vermag. Manche versuchen, Vergangenheit zu erschließen, indem sie sicherzustellen glauben, dass Ältere über Älteres erzählen, und hören, dass diesen Älteren noch Ältere über noch Älteres erzählten, und sich deshalb zu glauben erlauben, dass die erzählte Vergangenheit wahrscheinlich vorhanden war. Hier haben wir mehr mit Analogie im weiteren als mit Induktion im engeren Sinne zu tun – abgesehen von der Tatsache, dass solche Beweise sich als entbehrlich zeigen. Zeitgenössische Historiker beabsichtigen oft nicht, Geschichten zu beweisen, sondern bestimmte Fragen an erzählte Handlungen zu stellen, wofür sie das wirkliche Vorhandensein derselben nicht vorauszusetzen brauchen. Ob Sallust seine Erzählung über Catilinas Verschwörung vor zwei Tausend Jahren oder gestern Abend verfasste, ändert nichts an der Handlung derselben.



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Der Wahrheits-Autonomie aller einzelnen Erzählungen, d.h. ihre Unabhängigkeit von unserer Realität, stellen manche Historikerinnen die wahre „Geschichte der Menschheit“ entgegen, eine unendlich lange, eingebettet in einer vollständigen Welt, außerhalb des Geistes existierend, im Besitz einer wirklichen Vergangenheit, welche sämtliche wahre Handlungen des Menschen, in allen Zeiten zugetragen, erfasst, Geschehnisse, die die Historikerin nur richtig zu erforschen und entsprechend zu schildern braucht. Alle wahren Schilderungen zusammen ergeben die Geschichte der Menschheit. Erzählungen bedürften nur einer Deutung, die sie in Zusammenhang mit jener äußeren Welt bringt, und der Historiker wäre nichts anderes als ein Detektiv, der alle auf eine einzige zusammenfasst, da das Erzählte sich immer als Teil einer größeren, sinnvollen Erzählung offenbart, solange der Historiker die Bruchteile richtig miteinander verknüpft. Und dennoch wird der aufklärende Zusammenhang, der alle Geschichten zu einer großen Geschichte der Menschheit verbindet und für manche sogar verbinden muss, auch erzählt, denn auch die längst mögliche Geschichte bleibt eine Erzählung. Verwehrt man einzelnen Erzählungen ihre Wahrheits-Autonomie, erntet man zwei Verluste: Weder tritt die Wahrheit durch Einbettung in größere Erzählungen ein, noch werden die autonomen Welten der Einzelerzählung einer rein zusammenfügenden Deutung zugänglich sein.



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Empörend, wird der Kritiker einwenden, ist ein solch skrupelloser Umgang mit Geschichte! Wenn die Geschichte des Menschen nur Erzählungen umfasst, kann uns der vollständige Bericht des Holocausts teilnahmslos lassen, nur eine weitere Erzählung, nicht wirklich stattgefunden, und damit auch alle erfundenen Kriege, das hiermit geleugnete Leid der Älteren, das bestrittene Unrecht früherer Zeiten durch Verachtung ersetzt. Das zeuge von einer tiefen Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, einer Haltung, die ihre Geschichten für nutzlos erkläre und der Geschichte jeden sittlichen Wert entziehe. Es ist aber nicht so. Solange der Mensch in der Gegenwart handelt, wird es unmöglich sein, in der Vergangenheit jetzt zu wirken. Die Philosophie und der gesunde Menschenverstand verkünden verschiedenes zur sittlichen Führung eines jeden, und seitdem unsere Zeit es den meisten erlaubt, nach eigenem Urteil zu handeln – gesetzt der Fall, sie beurteilen ihr Handeln – lernen wir alles, was zur Lenkung unsrer Sitten dienen soll, heute und für heute. Höchst willkommen sind die vorhandenen Geschichten, die dies oder jenes lehren wollen. Ob und wann eine ähnliche Erzählung sich zuträgt, ist indessen nicht von Belang. Warum nicht?



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Der ethische Wert einer Geschichte liegt nicht in ihrer Wirklichkeit und viel weniger in ihrer Zeitlichkeit. Ob wir aus Erfahrungen anderer wirklich besser lernen, uns zu erkennen, lässt sich kontrovers erörtern. Der Römer, der nie von Danton hörte, ist nicht unbedingt unerfahrener als jener, dem die Handlung einer Französischen Revolution erzählt wurde. Der Franzose, der Danton bewundert, findet sich in der eigenen Welt nicht immer besser als Cato oder Oliver Twist zurecht. Weniger kontrovers ist jedenfalls die Tatsache, dass jede Erzählung, selbst die unwahrscheinlichste, eine Zusammenfassung menschlicher Konflikte darstellt, Spannungen, aus denen der lebendige Reiz zu erzählen stammt. Keine Einzige wird unter ihnen zu finden sein, aus welcher wir gar keine sittliche Aussage lesen mögen. Die Kürzeste jener beinhaltet oft Probleme, die unzählige andere betreffen. Was uns die schmerzvolle Fülle von Berichten über den Holocaust offenbart, bringt auch das Märchen über das hässliche Entlein mit wenigen Worten zum Ausdruck: alle Welt verfolgt ein unschuldiges Entlein wegen seines Aussehens – seiner Rasse, wenn Sie es deutlicher wollen. In jener Welt, in der das Tier in seinem Elend nicht sein darf, was es ist, zieht es schließlich den Tod dem Leben vor.



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Wird die Kritikerin behaupten, dass die Geschichte des Entleins, Andersens Holocaust, uns kalt lassen könne? Das hässliche Tier verkörpert eine sehr wirkliche Tragödie, ein so wahres Unheil, dass der Erzähler das Leiden mit Blumen verdeckte, damit das Kind als Kind, der Erwachsene als Erwachsener berührt würde. Das Märchen, dessen letzte Worte auf eine fröhliche Erfahrung hindeuten, birgt ein katastrophales Ende. Das arme Entlein, so früh Unrecht erlebend, bleibt ein hilfloses Opfer der ihn umgebenden, überwältigenden Heuchelei, die seine Natur erst dann anerkannte, als es sich als eleganten Schwan den nun, mit warmen Grüßen lächelnden Fremden erzeigte, den falschen Freunden, die einst sein Selbstbewusstsein ausmerzten. Zu wähnen, dass nur die wahren Geschichten belehren – als ob es solche gäbe – erweist sich daher, ich werde uns weitere Beispiele ersparen, als ziemlich anmaßend. Die Berichte der Historikerin bieten einen sittlichen, dem der Dichter-Epen nicht unähnlichen Gehalt. Das Wahre, das Wirkliche, ja selbst das Wahrscheinliche dient in dieser Hinsicht nur als Beiwerk.



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Dass wir übermenschliche Verbrechen Erzählung nennend, dieselben leugnen, wirft uns eine Schule vor, die den Begriff Geschichte nur in Zusammenhang mit Politik und Gesellschaft genannt wissen will, eine altherbrachte Schule, die noch heute beabsichtigt, weise Herrscher wie zu den Zeiten der ehrwürdigen Monarchien zu bilden. In den glorreichen Taten Alexanders oder Napoléons erkennt sie durchaus Wertvolles, jedoch nur aus dem Grunde, weil dieses Wertvolle dort eine politische Dimension annimmt, während ein Dostojewski für unhistorisch erklärt wird, da der russische Meister lieber den „Traum eines lächerlichen Menschen“ schildern will, eines Individuums, das in allen menschlichen, auch in politischen Hinsichten so lächerlich wie der für historische Zwecke scheinbar gewichtigere Alexander oder Kaiser Napoléon sein mag. Ähnlicherweise behandelt Defoë die Einsamkeit und die Konflikte des „Robinson Crusoe“ in einer vergessenen Welt, einer sprachlichen Insel, die der angestellte Historiker als nutzlose Literaten-Prahlerei bezeichnet, als ob des Beamten Erzählungen ob ihres fachbegrifflichen Hauchs wirklicher wären als jene Defoës. Wir leugnen kein Verbrechen, gar kein Leid, im Gegenteil, wir erkennen noch weitere außerhalb der klassischen Rahmen der sozial-politischen Geschichtsbesprechung, die ein folgewidriges Programm vertritt, nicht folgerichtig, weil es nicht zu begründen vermag, warum die Tragödie des Nero, Nachfolger des Claudius, den besseren Herrscher als die Tragödie des Claudius, Onkel des Hamlet, bilde, inwieweit also der Glaube an wirkliche Geschichte für die Bildung eines „weisen Kaisers“ unentbehrlich sei.



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Mit lauteren Tönen sollte eher bedauert werden, dass die Geschichtstheorie im akademischen Leben meistens nur am Rande Erörterung findet, während die zeitgenössische Forschung allzu sehr mit eingeschränkten Fragen und Unterfragen beschäftigt ist, einem Szenario, in dem immer tiefer grübelnde Forscher zunehmend allgemeine Probleme der Geschichtswissenschaft aus dem Augen verlieren, im Stillschweigen den Glauben, Vergangenheit zu erfassen, das Vorhandensein von Handlungen ohne Erzählungen weiterhin voraussetzend. Die Ironie dieser Haltung kommt am besten zu Tage, wenn zeitgenössische Forscher kritische Problematisierungen des Geschichtsbegriffs Post-Moderne, Post-Histoire, Avantgarde oder ähnliches schimpfen und theoretische Standpunkte der eigenen Tradition vergessen. In den grundlegenden Werken der historischen Wissenschaft verwendet sich die Vorstellung wirklicher Vergangenheit, wenn überhaupt, mit höchster Vorsicht. Wer sich ernstlich mit der Bedeutung von Geschichte beschäftigte, mochte nie behaupten, dass Vergangenheit die Quelle erfahrender Wissenschaften darstelle, wie uns ein kurzes Beispiel des nicht ganz post-modernen Gustav Droysens zeigt:



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„Es heißt, die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, zu verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. Was in irgend einer Vergangenheit objektiv vor sich gegangen ist, ist etwas ganz anderes als das, was man geschichtliche Tatsache nennt. Was geschieht, wird erst durch die Auffassung als zusammenhängender Vorgang, als ein Komplex von Ursache und Wirkung, von Zweck und Ausführung, kurz als Eine Geschichte begriffen und vereinigt, und dieselben Einzelheiten können von andern anders aufgefasst, sie können von andern mit andern Ursachen oder Wirkungen oder Zwecken kombiniert werden“ (Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte).

Um jetzt auf die Bedeutung von Geschichte als die forschende, geschichtsbesprechende Arbeit der Historikerin einzugehen, sollten wir diese Tätigkeit im Bereich der Erkenntnis besser verorten. Zu einem besseren Verständnis des Wissens möchte ich die Gesamtheit der methodischen Versuche zur Ermittlung von Erfahrungen und Sätzen, und zur damit verbundenen Gewinnung von Erkenntnis, provisorisch mit dem Ausdruck „allgemeine Erforschung“ bezeichnen, einer Entität, die wir in drei Bereiche unterteilen können, wobei die Unterteilung keine Beschreibung einer wirklichen Realität beansprucht, sondern nur einen deutlicheren Umgang mit Begriffen: Die zu erläuternden Bereiche seien die Philosophie, die Wissenschaft und die Technik.



Der Begriff Geschichte Folium IV






I. Die Philosophie fragt nach den Bedingungen des Seins und dessen Verhältnis mit Erscheinung, nach Erfahrung, Wissen und Erforschung. Sie ist theoretisch, wenn sie das Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung, oder die Bedingungen von Erscheinung und Erfahrung, Wissen und Erforschung ermittelt, und praktisch, wenn sie die bestmögliche Verfassung des Daseins untersucht, sofern das Individuum Verantwortung für seine Existenz übernehmen kann. Das methodische Nachdenken über das Wesen der Geschichtserforschung ist eine Aufgabe der theoretischen Philosophie.

II. Wissenschaft ist die Gesamtheit der Systeme von Sätzen zur experimentellen Erklärung empirisch wahrgenommener Erscheinungen – und nur das. Wissenschaftliche Erklärung ist die Verknüpfung von Vorstellungen, die Allgemeines und Einzelnes durch Gesetz und Maß aufeinander bezieht. Wissenschaftliche Erklärung ist daher nicht nur empirisch, sondern auch experimentell: Die von ihr untersuchten Erscheinungen lassen sich durch Experimente wiederholen. Die Biologie, die Chemie, die Physik, Teile der Geographie, der Medizin und der Psychologie sind Wissenschaften.

III. Technik ist eine Fertigkeit sowohl zur methodischen Beobachtung konkreter und abstrakter Erscheinungen (als theoretische Technik), als auch zur konkreten Verarbeitung von Erscheinungen (als praktische Technik). Oft wendet die Technik Ergebnisse der Philosophie oder der Wissenschaft für ihre Untersuchungen an, ohne selbst philosophisch oder wissenschaftlich zu sein. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, die angewandten Erscheinungen zu erklären.



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Viele erforschende Fächer haben gemischte Merkmale. Die Psychologie und die Medizin sind in ihren biologischen Untersuchungen wissenschaftlich, in den statistischen und allgemein empirischen Betrachtungen eine theoretische, in der therapeutischen Anwendung ihrer Ergebnisse eine praktische Technik (und so geht es weiter: Die Gesellschafts- und Wirtschaftserforschung ist in ihren statistischen, empirischen Eigenschaften eine theoretische Technik. Philosophisch sind die Bereiche dieser Ermittlungen, die nach den Grundbedingungen von Gesellschaft und Wirtschaft und deren Verhältnis zu Sein und Dasein fragen. Beide Fächer werden zu einer praktischen Technik, wenn wir ihre Ergebnisse auf Haushalt, Unternehmen und Staat anwenden. Die Rechtserforschung ist eine theoretische Technik zur methodischen Beobachtung der Befolgung von Gesetzen und eine praktische Technik zum Erkennen der richtigen Anwendung von Gesetzen. Philosophisch ist die Rechtserforschung, wenn sie nach den Grundbedingungen des Rechts fragt. Das Recht ist kein Gegenstand einer Wissenschaft im Sinne der obigen Unterscheidung.).



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Die Tätigkeit der Historikerin umfasst ihrerseits eine methodische Fertigkeit zur Untersuchung erzählender Texte, ob Schrift oder Säulen. Die Suche nach Materialien, die Auswertung von Begriffen, die Erstellung von Ereignissen, deren Einbettung in Zusammenhänge stellen Schritte einer oder mehrerer Methoden zur Erforschung textueller Welten dar. Eine theoretische Technik wie diese ist keine Wissenschaft im Sinne der obigen Definition, weil ihre Ergebnisse sich nicht experimentell wiederholen lassen. Eine bloße Methode macht noch keine Wissenschaft aus. Die Astrologie trifft Aussagen über den Einfluss der Himmelskörper auf Menschen nach sehr deutlichen Methoden. Die Rituale vieler Völker zur Geisterbeschwörung erfolgen nach allgemein überprüfbaren Methoden.

Persönliche Erinnerung als Methode der Geschichtstechnik ist keine Wissenschaft. Gleiches gilt für die Deutung niedergeschriebener Erinnerungen Dritter. Der Historiker beobachtet ein Ereignis, deutet eine Quelle, vermag jedoch nicht, das Ereignis mitsamt den Quellen zu erklären, wenn wir Erklärung als Verknüpfung von Vorstellungen durch Erstellung experimenteller Gesetzmäßigkeiten verstehen.



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Die wissenschaftliche Erklärung eines historischen Sachverhaltes, sofern sie wissenschaftlich zu sein beabsichtigt, müsste in der Lage sein, Gesetze aufzustellen, die Carl Gustav Hempel ungefähr so formuliert: Wenn ein Ereignis A an einem Ort auftritt, wird gleichzeitig ein Ereignis B an einem Ort auftreten, der mit dem Ort von Ereignis A zusammenhängt. Der Anspruch des Historikers auf Wissenschaftlichkeit, auf Beobachtung einzelner Erscheinungen basierend, erweise sich ohne die Aufstellung allgemeiner Gesetze als nicht erfüllbar. Dessen ungeachtet glaubt Hempel, dass der Historiker tatsächlich Gesetzmäßigkeiten vermittels „scientific historical research“ aufzustellen in der Lage sei, eine eher exzentrische Auffassung, denn wissenschaftlich zu erklären, warum der Deutsche Orden die Stadt Memel gründete, bedeutet zu erklären, warum ein jeder in den gleichen Umständen das gleiche getan hätte und notwendigerweise tun müsste, als ob die Umstände, in denen der Deutsche Orden die Stadt Memel gründete, sich experimentell wiederholen ließen.



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Dass die Geschichtstechnik menschliches Treiben nicht nach Gesetz und Maß zu erklären imstande ist, will indessen nicht dazu führen, dass sie keine Warum-Fragen stellen dürfe, Kausalschlüsse, mit denen das Sinnen des Forschenden Gesellschaft und erzählerische Zeitlichkeit in einer bestimmten Ordnung sich vorzustellen vermag, in Gebilden, die des Betrachtenden ästhetische Bedürfnisse erfüllen – wie etwa durch die Anwendung abstrakter Theorien, die einem Hans-Ulrich Wehler so gewichtig erscheinen, dass er nicht wisse, wie man erst die vorindustrielle, dann die industrielle Wirtschaft ohne Information durch Theorien der Ökonomen erfassen könne. Wie dem auch sei, in eine solche Ordnung von Sätzen und Abstraktionen fügen sich Kategorien wie Gesellschaft und Vergangenheit als Vorstellungen ohne notwendige Wirklichkeit, aber von erfüllendem Gehalt für die Erzählung, den Aufbau von Spannung und Zusammenhängen ein. Die Kausalschlüsse der Historikerin gestalten sich derart, dass sie auf Erzählung, Darlegungen von Theorien einbegriffen, basieren, der Einbildungskraft entspringen und meistens keine Erklärung des allgemein Seienden, sondern ad hoc Beschreibungen erzielen, sich auf Einzelnes beziehend.



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Kausalität ist kein vollkommenes Kriterium zur Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Technik im Sinne der obigen Definition, denn selbst in den experimentellen Wissenschaften, in jenen Bereichen der allgemeinen Erforschung, die dieses Wort am meisten verdienten, selbst dort zeigt sich kein Kausalschluss als logisch notwendig, sodass nicht Logik, sondern Erfahrung allein dieser Art Schluss zugrunde liegt. Die Erfahrung bedeutet dem Forschenden allein, in welchem Zusammenhang ein Ereignis auftritt. Der Forscher stellt sich folgend vor, welche Eindrücke er in Verbindung mit welchen zu erkennen bereit ist, ohne dass eine Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung sich in formaler Logik als notwendig erwiese.

Auch Gustav Droysen, der ältere, stützt die Zuverlässigkeit historischer Erforschung nicht auf Erklären, sondern auf Verstehen. Das Wesen der historischen Methode sei forschend zu verstehen, ja, man könne Menschen in ihrem individuellen Sein verstehen: „Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden“, heißt es im Grundriss der Historik. Aber stimmt es wirklich? Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden die Leser, oder selbst die unmittelbaren Hörer, höchstens die eigene, nicht die Angst des Schreienden. Droysen behauptet, man könne menschliches Handeln in der Zeit nicht empirisch erklären, wobei empirisches Verstehen zugleich (1) möglich und (2) wissenschaftlich sei – damit voraussetzend, dass die Menschen uns sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit, gesetzt der Fall, letztere verfüge über eine ontologische Existenz, verständlich seien. Hören wir eine Sonate von Beethoven, nehmen wir sie zweifelsohne empirisch wahr. Was wir dort allerdings hören, sind Spuren unser selbst, nicht eines anderen. Beethoven hören wir nicht, sein Inneres verstehen wir nicht, und die von uns empfundenen Gefühle sind die unsrigen, nicht jene Beethovens – und lesen wir einen seiner Briefe, auch dann verstehen wir Beethoven nicht, wir finden höchstens uns selbst im Brief, weder die Vergangenheit noch Spuren der Vergangenheit erkennend. Der Begriff Verstehen verwendet sich am besten für Vorgänge des Inneren, die uns aber unerreichbar sind. Das Äußere mag eher erahnt werden, sodass der Hörer es vermag, den Schrei der Angst vernehmend, die Angst zu erahnen, aber er versteht sie nicht ganz.



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Der Umgang mit Quellen, wie ihn Gustav Droysen in seiner Historik beschreibt, darf natürlich als empirisch gelten: „Die Geschichte ist das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens (ἱστορία).“ Empirisch heißt jedoch lediglich, dass eine Person A glaubt, eine Quelle Q wahrzunehmen – ein äußerst subjektives Verfahren, und allzu groß ist der Schritt, der die Eigenschaften „empirisch“ und „objektiv“ voneinander trennt, ein Problem, das Droysen selbst erkennt und deswegen dazu ergänzt: „Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjektive Auffassung des Wahrgenommenen zu prüfen, zu verifizieren, zu objektiver Kenntnis zu formen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft.“ Eine unvollkommene Ergänzung – denn die Verifizierung, die Überprüfung, die manche für eine Art objektive Intersubjektivität halten (ohne den Paradox der Auffassung einzusehen), verfügt nicht über Objektivität in der Weise, dass der Deutende in der Deutung gänzlich zurücktritt, als möge man die Quelle so beschreiben, „wie sie eben ist“, als wäre jede Deutung nicht zur Willkür prädestiniert. Keine Deutung ist überprüfbar, zumindest nicht in dem kategorischen Sinne, dass eine Person B die Deutung der Person A über die Quelle Q mit derselben Quelle Q vergleichen und schließlich sowohl die Quelle Q als auch die Deutung der Person A verstehen, d. h. sich in die innere Lage der Person A und des Verfassers der Quelle Q hineinzuversetzen vermöchte – ein unmöglicher Versuch, weil der Deutende auf diese Weise in den Zirkel des Verstehens hineinfällt. Notwendig ist infolge dessen festzustellen, solange empirische Wahrnehmung der Quelle Q vorliegt, dass sowohl die Person A als die Person B in ihrer Deutung recht haben müssen, auch wenn sie sich widersprechen. Die Person B, welche die Deutung der Person A überprüfen sollte, kann folglich weder die Quelle Q noch die Person A verstehen. Was wir zum Schluss Überprüfung nennen, stellt nur eine subjektive, wenn auch möglicherweise kritische, Zustimmung- oder Ablehnungsäußerung gegenüber Deutungen Dritter dar.



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Die Tätigkeit der Historikerin ist eine Technik. Sie entwickelt Methoden zum Umgang mit einzelnen Erscheinungen und weist theoretische wie praktische Aspekte auf. Indem die Methodik eine Handlung betrachtet, sei diese in einem Dokument, in der eigenen Erinnerung oder im gegenwärtigen Eindruck eines Raumes enthalten, verkörpert dieselbe eine theoretische Technik. Die Methodik zur Darstellung einer betrachteten Handlung verwandelt ihrerseits das Wirken der Historikerin in eine praktische Technik.

Aber der Kritiker wird hier einwenden, dass wir die „Geschichtswissenschaft“ und ihre Technik nicht bräuchten, wenn alle Quellen gleich einem Zeitungsartikel von gestern zu betrachten wären. Wir kommen auf die Frage zurück, ob eine historische Quelle sich von anderen Erzählungen unterscheide und wenn ja, woran. Die Tatsache, dass keine Quelle die Existenz einer ontologischen Vergangenheit zu beweisen vermag, ändert wenig an der Arbeit des Historikers. Eine Tradition von Erzählungen über ein Ereignis liegt ihm vor, Besprechungen häufen sich an, und seine Arbeit wird auf diese Texte Bezug nehmen, auf Texte also, die bereits vorhanden sind, wenn er seine Arbeit beginnt. Das Gedeutete ist auch hier ursprünglicher als der Deutende. Wenn ich mich also entscheide, über Totila, den König der Goten zu schreiben, und mir als einzige oder fast einzige Quelle der Bericht eines gewissen Procopius von Caesarea zur Verfügung steht (und über diesen eine Reihe akademischer Besprechungen), so weiß ich zwar, dass diese Quelle mir keine ontologische Vergangenheit beweist, aber die Pragmatik meiner Arbeit wird die Quelle als Teil einer funktionellen Vergangenheit betrachten, einer Quasi-Vergangenheit, die meine Arbeit konstruieren muss, um sich methodisch zu orientieren. Auch wenn ich wüsste, dass es niemals eine historische Wirklichkeit geben wird, auch dann könnte ich den Anspruch nicht aufgeben, meine Quelle nach einer mehr oder weniger zuverlässigen Methode zu erforschen, einer Methode, die sie möglichst von anderen Erzählungen und Dokumenten unterscheidet. Ist diese Unterscheidung möglich?



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Wir sollten die Unterscheidung mindestens in pragmatischer Hinsicht möglich machen, indem wir einen differenzierten Dialog mit der Quelle suchen. Im Dialog stellen wir fest, dass nicht nur wir Erwartungen an die Quelle stellen: Auch die Quelle stellt Erwartungen an uns. Sie kommuniziert einen Gedanken, hat einen menschlichen Ursprung, einen Urheber als den Sender der Botschaft. Mit jeder Erzählung, jedem Text müssen wir ohnehin einen ähnlichen Dialog führen, um zunächst einmal den Appell des Textes zu verstehen, denn jeder richtet einen Appell an uns: Er möchte ernst genommen und als wahr verstanden werden, und ob nur wahr im Sinne einer funktionellen Wahrheit, einer solchen, die sowohl dem Bericht des Procopius als auch dem Dornröschen gemeinsam ist. Ich werde diesen Appell bis auf Weiteres den Wahrheitsappell nennen. Unabhängig von seiner Glaubwürdigkeit ist der Wahrheitsappell eines Textes ursprünglich ein rein rhetorischer Appell. Keine Erzählung, wie bereits angemerkt, möchte sich als bloße Lüge darstellen, jede bekennt in irgendeiner Form einen Bezug zur Wahrheit, was auch immer sie sei, und will geglaubt werden. Wenn ich aber meine historische Quelle richtig auffassen möchte, muss ich einen besonderen Umstand berücksichtigen: Verschiedene Texte richten verschiedene Appelle an den Leser, und meine Quelle richtet ebenfalls einen differenzierten Appell an mich. Dieser ist im Grunde zwar auch ein rhetorischer, aber er verhält sich näher betrachtet aufdringlicher. Ich erkläre:



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Dornröschen möchte zwar von seiner Wahrheit überzeugen, aber wer die Wirklichkeit dieser Handlung in Frage stellt, tut der Erzählung keinen großen Schaden, denn die Erzählung kann auch ohne die volle Überzeugung der Leserin bestehen. Der Bericht des Procopius hingegen richtet auch einen Wahrheitsappell an mich, aber wenn ich diesen Appell grundsätzlich nicht anerkenne, dann verliert die Quelle etwas von ihrem Sinn. Ich ignoriere damit die Tatsache, dass Procopius oder der Urheber meiner Quelle von mir erwartete, dass ich seinen Wahrheitsappell anders als den Appell eines Dornröschens wahrnehme. Wenn meine Arbeit, mein Zugang zur Quelle dies nicht berücksichtigt, kann sich meine Arbeit nicht als historisch rechtfertigen. Weil meine Quelle einen differenzierten Wahrheitsappell an mich stellt, und zwar einen historischen, wird sie sich nur dann in ihrer Fülle offenbaren, wenn ich ihrer Erwartung Folge leiste. Andernfalls könnte sich die historische Arbeit von der Arbeit eines Theologen oder Literaturwissenschaftlers nicht mehr unterscheiden.

Wahrheitsappelle haben verschiedene Grade. Der Wahrheitsappell einer allgemeinen Erzählung lautet: Nehmen wir an, ich erzähle euch die Wahrheit. Aber der Wahrheitsappell einer Erzählung als historischer Quelle lautet: Glaubt mir ganz, ich erzähle euch die Wahrheit. Die Glaubwürdigkeit des Appells im Einzelfall herauszustellen, wird natürlich eine zusätzliche Aufgabe der Historikerin sein. Ihre erste Aufgabe muss aber darin liegen, dieses differenzierten Appells zunächst einmal gewahr zu werden.



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Der Wahrheitsappell meiner Procopius-Quelle erwartet von mir nicht nur, dass ich die Wahrheit der Erzählung annehme, sondern auch, dass ich an sie glaube. Meine historische Arbeit wird also prüfen, inwiefern die Quelle glaubwürdig und der Appell gerechtfertigt ist. Oft wird sich etwas in der Tat als glaubwürdig herausstellen. Was passiert damit? Um der Erwartung der Quelle gerecht zu werden, muss ich das Glaubwürdige anders behandeln als die rein spekulative Wahrheit eines Dornröschens, auch wenn ich weiß, dass das Glaubwürdige noch lange keine historische Wahrheit offenbart. Ich gehe also einen methodischen Kompromiss ein: Um das Glaubwürdige als solches anzuerkennen, werde ich ihm das Attribut einer zeit-räumlichen Existenz verleihen. Dabei ist die Existenz hier kein ontologischer, sondern ein funktioneller Begriff – ein Begriff, den ich in Ermangelung eines besseren konstruiere, damit er eine bestimmte methodische Funktion erfülle, und zwar die Funktion, das Glaubwürdige an meiner Quelle in ein äußeres Szenario einzubetten. Dieses Szenario besteht aus Zeit und Raum, aber Zeit und Raum sind in ihm keine realen, sondern wiederum funktionelle Größen, denn das Szenario selbst verkörpert mehr eine Funktion als eine Realität. Ich werde also dem Glaubwürdigen in meiner Procopius-Quelle gerecht, indem ich es in das Gebilde einer funktionellen Vergangenheit einfüge, als ob ich im Dialog mit dem Glaubwürdigen sagte: Ja, liebe Quelle, für mich bist du erst einmal ein Stück Vergangenheit, und wenn es keine Vergangenheit gibt, erfinde ich gern eine für dich, um einen besseren Zugang zu dir zu haben.



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Wie denn nicht? Ein differenzierter Appell verlangt einen differenzierten Zugang. Das Glaubwürdige an meiner Procopius-Quelle möchte nicht nur in seiner literarischen, text-immanenten Selbstständigkeit, sondern auch in einer extra-textuellen Funktion betrachtet werden, einer Funktion, in der die Erzählung eine mehr oder weniger implizite Botschaft an ihre Umwelt übermittelt. Procopius mag ja seinen Totila heroisch beschrieben haben, um Kaiser Justinian als Totilas Gegner zu kritisieren. Mein methodischer Kompromiss tut nichts anderes, als dieser Umwelt in ihrer ontologischen Unerreichbarkeit eine funktionelle Existenz zu verleihen, denn die Deutung braucht nicht nur Procopius und seinen Bericht, sondern auch dessen Umwelt, seine Gesellschaft, die Welt von Justinians Herrschaft und dessen Gegnern. In der Tat erlaubt uns jede Quelle zu untersuchen, was sie über ihre funktionelle Umwelt verraten mag. Die Quelle ruft uns sogar zu dieser Untersuchung und wir sollten also gern untersuchen, welche Rolle verschiedene Elemente unserer Quellen in ihrer funktionellen Umwelt spielen, welche Botschaft sie „nach außen“ übermitteln. Was wir nicht dürfen, ist, die Existenz einer solchen Umwelt jemals für selbstverständlich zu halten.



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Es wäre nachlässig, den differenzierten Wahrheitsappell einer Quelle nur aus dem Grunde zu ignorieren, weil der Appell nur einen subtilen, fast ganz rhetorischen Unterschied macht. Der Wahrheitsappell einer historischen Erzählung und die Möglichkeit, ihn wahrzunehmen, zeugen von einem größeren, existenziellen Appell im Menschen: Dem Verlangen nach Wahrheit in der Zeit, nach Vergangenheit und Geschichte. Ich spreche aber nicht von einem Gefühl, das etwa der „Natur des Menschen“ innewohnt. Das Verlangen nach Wahrheit in der Zeit ist Ausdruck einer menschlichen Freiheit, die ein jeder anders gebraucht. Es gibt nichts Notwendiges in diesem Verlangen, das in vielen lebendiger ist als in anderen, und seine Existenz erlaubt uns nicht, den historistischen Schluss zu ziehen, dass menschliche Existenz nur in ihrer Geschichtlichkeit verstanden werden kann, der Mensch also unbedingt einer Geschichte bedarf, um sich zu orientieren, sodass ich als Historiker etwa die Aufgabe übernehmen sollte, Menschen eine Geschichte, ja ihre eigene Realität in der Zeit aufzudrängen. Meine historische Arbeit drückt höchstens eine Einladung aus, ein freies Angebot an jene, die das Verlangen nach einer gemeinsamen Orientierung in der Zeit haben. Es ist das existenzielle Verlangen dieser Menschen nach Wahrheit in der Zeit, das in seiner ethischen Dimension die „mission impossible“ des Historikers, seine limitierte und spekulative Arbeit rechtfertigt.



Folium V






Geschichte und Existenz





I


Ein existenzphilosophischer Zugang zur Geschichte wird dadurch erschwert, dass es in erster Linie nicht die Aufgabe einer Erzählung ist, Existenz zu definieren oder zu erklären. Geschichte als die Manifestation eines allgemeineren Seins zu verstehen, eines Wesens des Menschenlebens, „in jeder Gegenwart ganz vorhanden“, wie Schopenhauer schrieb, setzt allerdings eine Annäherung an die Existenzphilosophie voraus. Ob der Mensch sich in zeitlichen Gewändern bewegt, die dem unveränderlichen Kerne seines Wesens nichts zufügen, oder ob solche Gewänder den Menschen tatsächlich von reinem Sein trennen, kann nicht mittels quellenkundlicher Empirie beantwortet werden. Zur Unruhe des Forschers gehört eine gewisse Bereitschaft, unangenehme Fragen zu behandeln und sie den leichteren vorzuziehen. Obwohl ein bedächtiger Pragmatismus Geschichte verstehen will, ohne auf das Verhältnis zwischen Geschichte und Existenz einzugehen, führt nur die Philosophie in ihrer (seit Kants Kritik der reinen Vernunft fragilen) Unannehmlichkeit zu eindringlichen Fragen wie: Gibt es etwas Unveränderliches in der Geschichte? Kann dieses methodisch und mit einem sinnvollen Ertrag erörtert werden?



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Die erste und älteste Herangehensweise ist die metaphysische, der Versuch, das allgemeine Sein als unveränderliche Größe, als „Natur des Menschen“ hinter der geschichtlichen Erzählung zu suchen. So behaupteten einige, das Gewand des Vergangenen berge in sich einen materiellen Widerstreit von Kräften in ihrem Streben nach Herrschaft. Der Überwinder des herrschenden Antichristen werde in der Gestalt einer Gesellschaft erscheinen, in der jeder einst Unterdrückte seine Fähigkeiten frei entfalten werde. Aber einer Geschichtsdialektik, die aus der Beobachtung des Werdens als subjektiver Erscheinung eine objektive Realität konstruieren will, als Szenario für das Sein, für das Unveränderliche hinter der Zeit, fehlt eine gewisse Beweiskraft aufgrund der Inkohärenz in der Erwartung, dass subjektives Betrachten zur Beschreibung einer objektiven Realität führen sollte. Eine sichere Metaphysik der Geschichte müsste daher eine sein, die eine vollständige Beschreibung des Intellekts anstrebt, der ursprünglichen Quelle allen Sinnes, denn die Geschichte, die Gesamtheit aller Erzählungen ergibt so wenig Sinn wie ein Tisch, bis der deutende Geist dem Wort einen Sinn verleiht. Aber ist es in der Tat möglich, das Verständnis der Geschichtlichkeit des Menschen auf die Beschreibung des menschlichen Intellekts zu reduzieren?



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Das Verständnis des Seins als einer verborgenen, zu entdeckenden „Natur des Menschen“ kann uns wenig helfen, denn das Verborgene mag kein rechter Gegenstand des Wissens, geschweige denn der Erkenntnis werden. Lasst uns am besten an einem einfacheren Prinzip festhalten: Der Mensch existiert zuerst einmal, und zu existieren heißt für den Menschen (um hier mit Sartre zu sprechen), frei zu sein. Frei bedeutet nicht losgelöst von sozialen oder biologischen Zwängen, sondern, mit Eigenschaften ausgestattet, zu wählen, zu entscheiden. Das Sein, welches diese Freiheit aus der bloßen Existenz sich bildet, und in welchem dieselbe Freiheit sich aufgibt, ist keine vorgegebene Natur, die der Geschichtsforscher nur zu suchen braucht hinter dem Schein der Zeit. Dies Sein ist Wahl, es ist freie Entscheidung. Nur die Existenz ist naturgegeben, aber gegeben in einer Blöße, einer Neutralität, die den Menschen nicht vom Stein oder vom Tier unterscheidet, von Wesen, die nur existieren und nicht die Freiheit haben, ein bestimmtes Sein von sich aus zu bilden und dieses als ihre Identität zu wählen. Die bloße Existenz hat keine Geschichte, weil sie keinen Gebrauch der Freiheit macht. Nur die zum Sein gewordene Existenz ist geschichtsfähig.



3






II


Ein existenzphilosophischer Zugang zur Geschichte muss konkreten Kategorien der Veränderlichkeit wie Wirtschaft und Gesellschaft Rechnung tragen, indem er diese nicht als äußere Realitäten oder geistige Einbildungen betrachtet, sondern als existenzielle Phänomene. Die Definition der Wirtschaft als Mittel zum Gleichgewicht zwischen menschlichem Bedürfnis und Knappheit der Güter genügt uns nicht, wenn wir die Vorstellungen, die mit dieser Definition einhergehen, etwa Vorstellungen über Mensch, Natur und Ware, nicht in ihrer existenzbezogenen Dimension besprechen. Wirtschaft ist mehr als ein Konflikt zwischen Mensch und Umwelt, den lediglich eine bestimmte Beherrschung der Umwelt, die Entstehung der Ware als Verwandlung der Umwelt lösen könnte.

An dieser Stelle wäre es eigentlich geboten, passende Definitionen von Wirtschaft und Gesellschaft, vom Menschen und seinen Bedürfnissen, von Umwelt und Ware zu erarbeiten. Aber der Versuch, Identitätsverhältnisse zu suggerieren, zu sagen, dies ist das, kann nicht gelingen, solange wir „Sein“ nicht definieren und nicht wissen, was sein bedeutet. Zweitens würde ich auf ein größeres Problem stoßen, wenn ich mich entschiede, Dinge zu definieren und das erste Problem einfach zu ignorieren. Denn meine Definitionen würden sich auf schwache Annahmen stützen, die entweder metaphysisch oder aprioristisch oder unverifizierbar wären. Dem Anspruch der analytischen Philosophie, ihrem impliziten Traum eines Arguments ohne Annahme kann ich nicht genügen und ich weiß nicht, ob jemand diesem logischen Idyll je genügen wird.



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Der Gebrauch einer Allegorie ist ein Akt der Vorsicht. Wir entwerfen die Fiktion einer bestimmten Figur, um die Kategorien der Veränderlichkeit darzustellen. Kain, der Brudermörder, ist jetzt losgelöst von seinem biblischen Milieu. Wir wissen Besseres über ihn, und ich erzähle: – Jahre, bevor Kain seinen Bruder zum Spaziergang einlud und mit der Schaufel tötete, hatte der junge Mann schon etwas von, sagen wir, Hesses Steppenwolf. Noch als Kind war seine erste materielle Erfahrung die seines Leibes, der ihm ständig Durst und Hunger meldete, die althergebrachte, altmodische und unerträgliche Dichotomie, die keine ist. Der kluge Adamssohn begriff schnell, dass der Bedarf seines körperlichen Elements zu stillen war, wenn er überleben wollte. Diese unausweichliche Tatsache, die Kain so unpoetisch von der biologischen Selbstständigkeit der Bäume trennte, zwang ein noch ziemlich zartes Gemüt zur Berührung mit seiner Umwelt, und Kains Umwelt war natürlich die Gesamtheit dessen, was er sinnlich erfahren konnte, wobei wir nicht so förmliche Begriffe wie aus Kants reiner Vernunf brauchen wie Sinnlichkeit, Verstand und Anschauung, Raum und Zeit, Kategorien und Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – war alles da, wissen wir schon.



5




Aber nachdem Kain mehr oder weniger seines Leibes Herr geworden, dämmerte ihm eine andere Erfahrung, eine ästhetische, eine Wahrnehmung der ἐσθής, der Kleidung seiner Umwelt. Sie war im engeren Sinne die Empfindung, die aus der Wahrnehmung entstand und sein Gemüt berührte, wie wenn er zwei Schafe seines Bruders am Schatten ruhen sah und dabei Gefallen fand. Im Rausche dieser Erfahrung empfand Kain das Bedürfnis, diese Umwelt zu besitzen, weil sie schön war. Seine Bedürfnisse, wie wir sehen, werden anspruchsvoller. Nur mit Durst-und-Hunger-Stillen ist ihm schlecht gedient. Ein geistiges Sehnen wird jetzt (man verzeihe mir den Tempuswechsel) an den Tag gelegt, gleich ein schönes und eben unmögliches, denn die ganze Umwelt kann er nicht besitzen und dies beunruhigt ihn. Kain begann also allmählich, Teile der Umwelt zu verarbeiten, etwa in seiner Farm, und eigen zu nennen. Der Adamssohn wurde damit zum Vater einer besonderen Art des Eigentums, einer Art, die rein geistige Bedürfnisse erfüllen sollte. Die Viecher, die er bis dahin gejagt hatte, und das Gemüse, das er fand, waren ein vorübergehendes Eigentum für den Leib. Kain erschuf etwas Eleganteres, und von dieser ersten Offenbarung der Eleganz bis zur ungeheuren Anhäufung von Ware und Kapital unserer Zeit gibt es im Grunde keinen großen Schritt. Es wäre nicht dazu gekommen, wenn der gute Junge sich auf Rinderjagd beschränkt hätte. Die Bedürfnisse seines Geistes, das Vermögen zur Empfindung des Schönen, ästhetische Erfahrung machte aus ihm den Begründer des Eigentums.



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Wer kann es Kain verdenken, dass er alle schönen Empfindungen genießen wollte, dass der Ackermann auf seinen Willen zu genießen nicht verzichten mochte? Natürlich erwuchs in seinem Fall aus dem Drang zu genießen der Drang zu besitzen. Es ist zwar bitte schön nicht so, dass man nur genießen kann, was man besitzt. Kain aber sah es anders und hatte dies mit den meisten seiner Kinder gemeinsam, dass ihm am meisten das Unerreichbare gefiel, am allerersten seine gesamte Umwelt. Von jeher beanspruchen die Kinder dieses Adamssohnes so viel wie möglich für sich. Kain wurde also früh dazu gezwungen, mit der Unerfüllbarkeit seiner Bedürfnisse umzugehen, genauer gesagt, der arme Mann musste ja Bedürfnisse aufgeben, was ihm nicht immer leicht fiel. So erreichte er das erwachsene Alter in dem Zustand einer ungeheuren inneren Spannung, wie ein frustrierter Ackermann, denn dieses war das Höchste, was er sich leisten konnte. Die Steuerung seiner eigenen Bedürfnisse angesichts der Unmöglichkeit, alles zu besitzen, verkörperte in Kain die Geburt der Wirtschaft. Die Geschichte dieses Menschen ist ein Sündenfall von einem Zustand ästhetischer Naivität in die wirtschaftliche Bewusstwerdung der eigenen Existenz. Das unruhige Bewusstsein, dass ein Mensch in sich selbst nicht passt, ist die Wirtschaft, wie Kain sie entdeckte.



7




Indem der Ackermann die Wirtschaft entdeckte, erkannte er in seiner geistigen Verbitterung auch die Gesellschaft, die gemeinsame Bewirtschaftung der Umwelt durch Menschen, die sich gegenseitig beeinflussten. Da ward er seines Bruders gewahr, des Schäfers, denn gerade die Schafe seines Bruders, gerade Abels Bedürfnisse hinderten seine, schafften Spannung. Wie denn nicht? Abel wollte auch etwas besitzen, am besten so viel wie möglich. So musste Kain feststellen, dass seine geistigen Bedürfnisse, ja selbst die Stillung seines leiblichen Bedarfs ohne Berührung mit seinem Bruder unmöglich war. Wenn immer Kain sich eine Gegend aussuchte, um seine Körner zu säen, musste er hoffen, dass Abel und seine Herde sich woanders aufhielten. Da dies aber immer seltener der Fall war, musste Verhandlung entscheiden, wer was besaß, aber diese Brüder waren nicht sehr bekannt für Diplomatie. Die Rechtfertigung ihres Eigentums voreinander war eine ständige Quelle von Konflikten und von Anfang an wohnte dem Wesen ihres gemeinsamen Lebens Zwietracht inne. Die Feindschaft, die aus gemeinsamen Begierden entstand, machte Abel und Kain um so unversöhnlicher. Kain aber hielt sich nie gern in Gesellschaft auf, er erwartete nichts Gutes aus ihrem Schoß und wollte ihr nichts Gutes geben. Er sah sich im Gegenteil gezwungen, teilweise durch die Autorität des Vaters, sein Milieu zu ertragen, um zu überleben.



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Adam, der Vater und Herrscher, war noch in der Lage, durch Vertrag und Gewalten den Schein einer Ordnung herzustellen und Eigentumsverhältnisse zu regeln. Aber seine Herrschaft war mitnichten das Ende der Konkurrenz und der Gewaltbereitschaft seiner Söhne und jeweiliger Parteien, gleichgültig, in welcher politischen Form der Patriarch versuchte, seine Macht auszuüben. Unter allen Umständen blieb jene Gesellschaft ein Schauplatz menschlichen Versagens, umso schlimmer angesichts ihrer Unausweichlichkeit. Denn selbst in einer Zeit, da die Welt so groß erschien, war es nicht mehr möglich, in die Freiheit der eigenen Einsamkeit zu fliehen. Auch dort musste schon jeder mit Gesellschaft umgehen. Adam, dem alten Herrscher, war die Einstellung seiner Kinder natürlich zuwider, weil der ehrwürdige Begründer jener Gesellschaft sie wie Aristoteles als einen Ort der Freundschaft betrachtete, in dem Menschen gemeinsame Ziele erreichen, in Frieden, Recht und Sitte miteinander leben mögen. Adam hatte ja viel von seinen Fehlern gelernt. Aber seine Hoffnung sollte sich als frommen Wunsch erweisen.



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Auf Mord und Blut, Gewalt und Totschlag sann Kain in seinem paradoxen Drang zu besitzen und zugleich frei zu sein, während der Vater noch Vertrag und Recht, der Bruder Betrug und List für die Verhandlung mit dem Außenseiter suchte. Solchen Zustand erreichte jene Gesellschaft. Wenn einem alles gehört hätte, so hätte er Feinde gehabt. Wenn jedem alles gehört hätte, so hätte jeder Feinde gehabt. Nur noch zwei Szenarien schienen dort möglich, nur zwei: Blut und Hunger. Die Vermehrung und Verteilung der Güter nach Vertrag und Gesetz könnte längst nicht mehr alle zufrieden stellen, denn viele mussten im Leib und im Geiste hungern. Wenn aber Wut und Zorn außer Band gerieten, und Vernunft und Unvernunft sich nicht mehr unterschieden, und die Sinnlosigkeit von Zwang und Pflicht und Recht und Rechtfertigung unerträglich ward, da brach ein jeder außer sich. Und Hass, und Neid und gegenseitige Verachtung kamen ungehindert zu Tage, sodass Tod und Leichen auf den Straßen herrschten. Dem Hunger folgte Gewalt, und jene ganze Menschheit musste in der Sintflut ihres eigenen Blutes ertrinken. Ihre Gesellschaft war zu einer unheilbaren Wunde geworden.



Geschichte und Existenz Folium VI






Es begann mit Kain, denn Kain mochte seine Existenz nicht länger ertragen. Als er merkte, dass sein Vater und seine Gesellschaft das Werk des Schäfers würdigte, der es mit seiner Herde im günstigen Terrain leicht hatte, Kains Arbeit aber wenig Anerkennung genoss, weil die Beschaffenheit des Bodens dem Ackerbau im Wege stand, und also merkte, dass man ihm eine schlechtere Stellung geben wollte, obwohl er so viel arbeitete wie sein Bruder, da wurde Kain ungehalten. Hass entstand in seinem Inneren und er fragte sich, wenn er abends vor seinem fruchtlosen Felde stand, nachdem er den ganzen Tag gearbeitet, was er getan habe, um diese Existenz zu verdienen, und woran er sich von seinem Bruder unterscheide, der vom Zufall so viel Gunst erfuhr und überall gelobt wurde, während Kain mit derselben körperlichen und geistigen Beschaffenheit das Licht dieser Welt erblickte und dennoch von ihr ausgestoßen schien. Das schien ihm nicht recht. Als er eines Abends seinen Bruder allein sah, nahm er Abel auf das Feld und tötete ihn mit der Schaufel. Kain nahm seine Rache nicht nur an Abel, sondern an allem, was ihn wie aus dem Nichts in jene aussichtslose Lage geworfen hatte. Er gebrauchte das Höchste seiner Freiheit, um eine unversöhnliche Revolte gegen die Existenz auszudrücken.



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So wanderte Kain sein Leben lang weinend durch Wüsten, während die Stimme seines Vaters ihn verfolgte und fragte: „Was hast du getan?“ Nach Jahren des Leides brachte ihn die Zerrissenheit der Reue zu einem Ort, in dem er eine Stadt gründete, um seine Taten wiedergutzumachen. Seine Herrschaft brachte Ordnung, aber er hatte nicht gelernt, in Gesellschaft zu leben, und konnte nicht verhindern, dass hinter dem friedlichen Anschein Zwietracht und gemeinsame Verachtung entstanden, ein unsichtbarer Krieg aller gegen alle, ein solcher Krieg, in dem das Leben eines jeden billig wurde. Kains Gesetze waren schwach und seine Sitten führten nicht zu Frieden und Freundschaft. Wenn diesem Adamssohn nicht einmal die Wirtschaft seines Ackerlandes gelungen war, wie konnte ihm sein zweites Ackerland, eine ganze Stadt gelingen? Kain schüttelte voller Enttäuschung den Kopf und seufzte. Die Kinder der Schwachen schauten ratlos auf den Untergang seiner Stadt. Dort litt am meisten die Hoffnung.



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Dieser rein menschliche Zugang zu Kain offenbart uns Wirtschaft und Gesellschaft als Phänomene, welche die Existenz eines Menschen von einem Zustand ästhetischer Naivität, von einem ethisch neutralen Zustand in einen der wirtschaftlichen Bewusstwerdung versetzt. Die Existenz wird sich ihrer Begrenztheit bewusst und in ihrer Begrenztheit erfolgt eine gesellschaftliche Bewusstwerdung. Die Existenz erkennt sich als Teil einer menschlichen Umwelt, die ihre Freiheit einschränkt, wobei dieselbe Freiheit die Existenz dazu aufruft, ihren eigenen Umgang mit Gesellschaft zu wählen. Dass diese Wahl stets einen schmerzlichen Preis hat und die Begrenztheit der Existenz widerspiegelt, zeigt die Kain-Allegorie. Wenn Kain sich der ursprünglichen Ordnung unterwirft, wird er einem Unrecht ausgesetzt. Wenn er gegen die Ordnung rebelliert, geht er am Untergang seiner Gesellschaft selbst zugrunde. In beiden Fällen muss eine Wahl getroffen werden, die ihn seine Freiheit kosten wird. Denn nach der Wahl hat er nicht mehr die Freiheit, Verantwortung nicht zu übernehmen, als ob er die Wahl nicht getroffen hätte. Die Freiheit führt ihn zur Wahl, aber in der Wahl geht die Freiheit verloren.



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Statt zu behaupten, dass der Mensch sich so und so verhalte, erzählte ich nur, dass ein gewisser Kain sich so und so verhielt und meide damit eine gefährliche Verallgemeinerung. Ich weiß nicht, wie der Mensch sich verhält, weil ich nicht weiß, was der Mensch ist. Wenn ich aber weiß, dass eine bestimmte Person sich so oder so verhalten kann, darf ich annehmen, dass andere sich ähnlich verhalten. Was eine Person tut, mag eine andere auch tun. Die Tatsache, dass ich Wissen über einen Menschen erlange, sagt mir einiges über den Menschen, denn ein bestimmter Mensch kann auch der Mensch sein, ohne dass der Mensch auch ein bestimmter Mensch sein muss. Ich verwende in meiner Allegorie den Fall eines bestimmten Menschen nicht, um eine allgemeine Aussage über die „Natur des Menschen“ zu treffen, sondern nur, um die Bedingungen der Existenz eines bestimmten Menschen zu beobachten. Das muss genügen, denn wenn ich mich mit Existenz befasse, muss ich gleich feststellen, dass der Mensch nicht existieren kann. Es existiert jeweils nur ein bestimmter Mensch. Der Leserin überlasse ich die Freiheit, sich mit den existenziellen Bedingungen eines bestimmten Menschen zu identifizieren – oder nicht.



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Wirtschaft und Gesellschaft sind veränderlich als äußere Funktionalitäten, die durch die Freiheit gesteuert werden, aber ihre konkrete Existenz drückt sich nur in der Freiheit aus, die sie steuert, in einer Freiheit, die weder veränderlich noch unveränderlich ist, denn sie ist unberechenbar und durch die bloße Existenz gegeben. Der Gebrauch der Freiheit in der Zeit ist unveränderlich in seiner bloßen Gegebenheit, aber veränderlich in seinem unberechenbaren Inhalt. Dieser Inhalt ist die Wahl, die den Lauf eines Menschenlebens bestimmt, eine Wahl, die in ihrer Form von vielen getroffen werden mag und wie eine einzige scheint, wenn wir sie von außen betrachten (was eine Person tut, mag eine andere auch tun), eine Wahl aber, die existenziell betrachtet eine einmalige, unwiederholbare ist. Keine zwei Menschen können dieselbe Entscheidung treffen, bzw. als ein einziger Körper in der Zeit handeln. Der Mensch trifft keine Entscheidung und hat daher keine Geschichte. Aber ein bestimmter Mensch hat eine Geschichte, und bestimmte Menschen können in einer bestimmten Umwelt Geschichten haben, die sich berühren, ohne dass diese Menschen eine gleiche oder gemeinsame Geschichte teilen. Niemand kann die Entscheidung Kains wiederholen, aber Kains Entscheidung berührt uns durch den Gebrauch einer Freiheit, die uns gemeinsam ist.



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III


Man wäre versucht zu behaupten, dass Kain an seinem ästhetischen Bedürfnis zugrunde ging als einer egoistischen Begierde, die seiner Gesellschaft schadete, während Abel die Partie des ethisch erzogenen Menschen spielte und seine ästhetischen Bedürfnisse unterdrückte. Kain glaubte, er müsste besitzen, was er genoss, und musste leiden, weil die ganze Welt der Gegenstand seines Genusses war. Seine wirtschaftliche Bewusstwerdung und seine gesellschaftliche Umwelt zwangen ihn nicht dazu, sein ästhetisches Bedürfnis aufzugeben; aufgeben sollte er nur eine unerfüllbare Begierde. Kain war aber naiv und konnte diese Unterscheidung nicht vornehmen. Aus fehlender Einsicht traf er eine Wahl, die ihn zugrunde richtete. Er rebellierte.

Abel unterschied zwischen ästhetischem Bedürfnis und unerfüllbarer Begierde so wenig wie Kain. In seinem Pragmatismus gab er aber sein ästhetisches Bedürfnis auf und traf ebenfalls eine Wahl, die ihm schadete. Indem er sich verschloss und die Berührung mit dem Schönen mied, verlor er das Vermögen, die Naivität seines Bruders zu verstehen und ihn zu bemitleiden. Abel verstand nur die Ordnung und wusste sich in ihr Programm einzufügen, dem Vater und Herrscher zu gefallen und somit die eigene Position zu stärken. Seine Moral entbehrte des Mitgefühls für den rohen Bruder.



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Nur Adam, der reuende Herrscher, wanderte oft im Feld und hielt vor einer Blume, die ihn eines Gartens erinnerte. Nun genoss er und er wollte nicht besitzen. Der Patriarch betrachtete im Stillen, wie wehrlos die Blumen hingen und wie viel Unheil eine Hand, ein Fuß dort anrichten konnte. Ein großes Ungemach ergriff ihn, Mitleid bewegte ihn, weil das kleine Wesen nur da stand und nichts wusste. Er liebte wohl die wehrlose Blume und nahm sich ihrer an, und er liebte auch Kain in seiner wehrlosen Naivität, die ihn zerstörte, als ob Kain eine Blume wäre. Aus diesem Grunde zog sich Adam jeden Abend zurück und hatte Mitleid mit seinen Kindern, das Mitleid, das er in der Empfindung eines Schönen entdeckte, im Felde. Seine ästhetische Erfahrung wurde zur ethischen.

Aber selbst Mitleid konnte das Unglück nicht verhindern. Wer war daran schuld, wer ist schuld an dem Bösen? Niemand und jeder. Niemand, weil wir weder das Böse noch den Menschen kennen. Aber jeder ist für seine Entscheidungen verantwortlich – nicht nur vor anderen, sondern vor sich selbst, denn die anderen beurteilen eine Entscheidung nur an ihren Folgen, aber die Folgen sind oft unberechenbar für den Handelnden, weil diejenigen, die auf die Entscheidung reagieren, sich auch frei entscheiden und frei reagieren. Ein bestimmter Mensch aber beurteilt seine Entscheidung nicht nur nach den Folgen, sondern auch nach seiner ursprünglichen Absicht. Dies ermöglicht mir noch kein ethisches Urteil über die Entscheidung eines Menschen, aber in Bezug auf meine eigene Identität darf ich behaupten, dass ich böse bin, wenn ich mich weigere, Verantwortung zu übernehmen. Dass ich bereit bin, Verantwortung zu übernehmen, heißt aber noch nicht, dass ich gut bin.



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Die Geschichte stellt uns oft vor Szenarien von Kriegen und gesellschaftlichem Untergang, vor denen wir leicht geneigt sind, nach Schuldigen zu suchen. Aber ein menschliches Übel bedarf keines bösen Menschen. Wer dies bestreitet, kennt die griechische Tragödie nicht. Ihre Szenarien erschaffen eine Welt, in der ein jeder nach bestem Wissen und Gewissen handelt, und die Tragödie zeigt, wie ein bestimmter Mensch selbst in der bestmöglichen Welt zugrunde geht. In der Handlung von Antigone hegt niemand die Absicht, anderen zu schaden. König Kreon lässt die Leiche von Antigones Bruder, im Kampf gegen die Stadt gefallen, unbestattet verwesen. Antigone verstößt gegen den Befehl und will dem Bruder eine würdige Bestattung geben. Kreon will seine Pflicht vor dem Volk, Antigone die vor dem Bruder erfüllen. Ein ähnliches Dilemma spricht Sartre an: Der Soldat muss zum Krieg, seine Mutter liegt aber im Sterbebett. Wenn er dem Vaterland dient, ist er ein schlechter Sohn. Wenn er der Mutter hilft, ist er ein schlechter Bürger. Dieser Soldat, auch wenn er gute Absichten hegt, kann keine einwandfreie Entscheidung treffen.



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Die tragische Spannung zwischen Interessen, die in ihrer Absicht etwas Gemeinsames verfolgen, in ihrer Ausführung aber in einen Konflikt münden, bringt Lyotard mit seiner Vorstellung von Widerstreit zur Sprache. Den Antagonismus zwischen Kreon und Antigone erklären wir dadurch, dass es an einer „universalen Urteilsregel für ungleichartige Diskurse“ fehlt. Der Konflikt lässt sich nicht schlichten, weil keine Urteilsregel auf beide Argumente anwendbar ist. Dass Abels Partei legitim ist, impliziert nicht, dass Kain falsch liegt. Die gesellschaftliche Umwelt eines bestimmten Menschen ist oft der Schauplatz von Akteuren, deren missverständliche Sprache zum Versagen der Kommunikation führt. Sie reden aneinander vorbei. Der Proletarier und der Bourgeoise heißen beide die Gerechtigkeit willkommen, aber weil die Begriffe ihrer jeweiligen Diskurse nicht harmonisieren, entsteht ein Kampf, ein Konflikt, der weniger an der existenziellen Bedingung des Proletariers und des Bourgeoisen (die es als solche Muster nicht gibt) liegt, als an der begrifflichen Unversöhnlichkeit unterschiedlicher Diskurse, die jedes ethische Urteil in bezug auf diesen Kampf unmöglich macht.

Die Geschichte einer bestimmten Gesellschaft muss deren diskursiven Widerstreit analysieren, damit sie keine ethische Verallgemeinerung betreibe. Aber dieselbe Geschichte muss auch in der Lage sein, innerhalb des Widerstreits die Existenz von Abel und Kain zu erkennen bzw. zu erkennen, für welchen Diskurs Abel oder Kain sich entscheidet und welche Verantwortung er übernimmt. Unabhängig von ihrem diskursiven Einfluss auf Kain bleibt seine Gesellschaft in erster Linie der Schauplatz seiner Freiheit, seiner Wahl und seiner Verantwortung.



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IV



Die bloße Existenz hat keine Geschichte, weil sie keinen Gebrauch der Freiheit macht. Wir bezeichnen hier einen Zustand der ästhetischen und der ethischen Neutralität. Die Existenz ist bereits von der Freiheit umgeben, aber weil sie diese nicht gebraucht, erscheint ihr die Freiheit zunächst als eine Leere, eine Unordnung im Chaos. Die bloße Existenz ist sinnlos, weil sie sich durch Nichtgebrauch keinen Sinn zuweist. Da sie sich in einer absoluten Neutralität befindet, in der ein beliebiger Satz richtig und nichtig ist, besteht in ihr kein sprachlicher Zusammenhang und das Einzelne hat keine Bedeutung, so dass sie unerzählbar und in ihrer Unerzählbarkeit geschichtsunfähig ist.

Aber weil die Existenz eines Menschen wie etwa Kain auch ein sprachliches Phänomen ist, d.h. ein Phänomen, das ohne den Gebrauch des Wortes kein Bewusstsein von sich selbst zu erlangen vermag, das Wort aber einen Versuch der Existenz an den Tag legt, sich in ihrer Umwelt zu orientieren und den Dingen Bedeutung zuzuweisen, begegnet die Blöße in dem Wort einem inneren Werkzeug, das sich Leere, Unordnung und Chaos entgegensetzt, als ob das Wort einen Willen zur Ordnung besäße. Wenn dieser Wille oder Quasi-Wille des Wortes sich dazu entscheidet, der Leere Bedeutung zuzuweisen, vollzieht sich in dem Willen eine existenzielle Bewusstwerdung, in der die Leere sich als Freiheit offenbart – ungebraucht aus mangelndem Bewusstsein. Erst in der Bewusstwerdung wird die Fülle der Freiheit nicht mehr als Leere aufgefasst.



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Dass eine scheinbare Leere sich als Quelle des Seins offenbart, hätte Kain aber wenig überrascht, als er durch die Wüsten weinte, denn nur in der Leere der Dürre, die ihn umgab, hätte der Brudermörder sich in seiner Wahl zur Reue wiederfinden können. Die Ordnung seiner Vaterstadt hätte ihm diesen Raum nicht gegeben. Ich erkläre, was ich meine:

Kain in seinem Willen zur Ordnung kniet vor einer versiegten Quelle und setzt mitten in der Wüste eine Klammer auf – Ich bin hier, ich erkenne mich. Ich existiere. Was bin ich denn? – Dieser Augenblick verkörpert die Geburt des Seins in der Existenz. Kain weiß, dass er existiert, und übernimmt die Verantwortung für seinen Fehler. Und dennoch steht er wieder vor einer Wahl – der Wahl, aus seiner Existenz etwas Bestimmtes zu machen, etwa eine Stadt zu bauen. Was er durch das Werkzeug seiner Freiheit konstruiert, ist das Ergebnis der Entscheidung, aus der Blöße Sinnvolles zu machen. Weil die Blöße die eigene Existenz ist, wählt Kain in der Entscheidung zu sein gleichzeitig etwas selbst zu sein – er wählt in seiner Seinswahl auch sich selbst.



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Sich selbst zu wählen, die Geburt des Seins ist eine Wahl in der Zeit. Diese ist im Grunde nur das Selbst in der Begrenzung seiner Bewegungen. Aber weil die Wahl zum Sein in ihrer wirtschaftlichen Bewusstwerdung eine Berührung mit Gesellschaft umfasst, mit unterschiedlichen Menschen, die jeweils eine Geschichte haben, umfasst die Wahl das Bekenntnis einer eigenen Geschichte und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Kain entdeckt einen Sinn für seine Freiheit in der Wüste, aber deren Bedeutung kann er nur verstehen, wenn er nun erkennt, wie er seine Freiheit vor der Wahl zum Sein gebrauchte und was er durch sie bewirkte. Der Adamssohn wird sich seiner Verantwortung in der Zeit bewusst und gesteht seine Taten vor dem Gericht des Selbst. Die Wahl bewirkt hier eine geschichtliche Bewusstwerdung. Kain weiß, dass er von nun an das ist, was er aus sich selbst macht. Aber er weiß auch, dass er seine Existenz vor der Wahl, die Zeit vor der Verantwortung, nicht von sich selbst tilgen kann. Indem er aber Verantwortung für seine Existenz vor der Wahl übernimmt, versöhnt er sich mit sich selbst und nimmt ins eigene Sein, ins freie Boot der künftigen Entscheidungen auch die Wahl zur Wiedergutmachung, damit das Sein aus seiner Existenz eine Existenz in der Verantwortung mache – die einzige, die Kain noch ertragen kann.



Geschichte und Existenz Folium VII






Kierkegaard sieht den Beginn des Seins in der Reue und geht noch weiter. Die Wahl von sich selbst finde ihren Ausdruck nicht nur im Bewusstsein einer eigenen, sondern auch einer gemeinsamen Geschichte, die uns mit den anderen Menschen unseres Geschlechts versöhne. Indem Kain sich wähle, bekenne er sich zur Schuld der Seinigen, die er auf sich nehme. Aber ist Adams Schuld auch die Schuld seiner Söhne? Ich möchte sagen: Ja und Nein. Wenn einerseits das Bewusstsein einer eigenen Geschichte als eine existenzielle Notwendigkeit aus der Wahl zum Sein erwächst, ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte der Gegenstand einer Wahl. Kain hat an dieser Stelle die Freiheit zu entscheiden: Entweder nimmt der Adamssohn in sein entstehendes Sein eine Geschichte, die mit seiner Existenz beginnt, d.h. seine eigene Geschichte vom Augenblick der Geburt an, oder er nimmt eine Geschichte auf, die das Leben seines Vaters und der meisten Menschen seiner Vaterstadt umfasst, indem er sich zu einer gemeinsamen Geschichte bekennt und damit die Verantwortung für die Taten einzelner Menschen in jener Stadt übernimmt.



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Die Geschichte des Seins, das Kain gebiert, beginnt nicht vor, sondern mit der Entstehung seiner bloßen Existenz. Nur er kann sich dazu entscheiden, seine Geschichtlichkeit gesellschaftlich zu erweitern, die Schuld der anderen ins eigene Sein aufzunehmen. Beide Entscheidungen, die negative und die positive, haben ihre ethische Berechtigung. Wer kann es Kain verdenken, dass er die Geschichte eines anderen Menschen nicht die eigene nennt? Durch das Geständnis seiner eigenen Taten und durch die Wahl zur Wiedergutmachung, die er trifft, steht Kain vor einer Aufgabe, die nur seine Taten wiedergutmachen kann. Die Schuld, die seiner Verantwortung nicht gehört, wäre im Angesicht seiner eigenen Schuld eine unberechtigte, ja unzumutbare. Das erklärt auch, warum die Geschichte dieser fremden Schuld dem Adamssohn niemals dürfte aufgedrängt werden. Er müsste sich freiwillig zu ihr bekennen. Aber was könnte ihn dazu bringen?



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Im Angesicht des Unterganges seiner Stadt, der Burg, die Kain nach vielen Wanderjahren gegründet hatte, schüttelte er den Kopf und seufzte. Nun erinnerte er sich seines Vater, der ebenfalls den Untergang eines Lebenswerkes und den Krieg seiner Kinder betrachtete. Indem Kain des Vaters Hilflosigkeit erkannte und in sich selbst empfand, erkannte er in sich selbst einen Teil seines Vaters, seinen Vater selbst. Und während seine Stadt unterging und seine Kinder in Blut ertranken, da liebte der reuende Mörder Adam, der nun er selbst war. Aber in diesem Augenblicke nahm Kain die Schuld seines Vaters auf sich, er bekannte sich zu ihr. Dieses war in ihm der Ausdruck einer Liebe, die ihm derart schien, als ob sie mit den Toten spräche und sagte: Teile, mein Vater, deine Schuld mit mir! Ich bekenne mich nicht zu deinen Fehlern, aber ich bekenne deine Fehler zu mir. – So entschied sich Kain, die Geschichte seines Vaters, dessen Glück und Leid zu erben. Aber nicht als Last und Bürde empfand es Kain, wenn er nachts im Ruin seiner verlassenen Stadt ruhte und den Himmel erblickte. Sein Erbe war Versöhnung. Kain handelte in der Einsicht, dass die Fehler eines bestimmten Menschen auch von einem anderen Menschen begangen können werden, sodass niemand ganz allein in seiner Schuld ist. Kain sah es an den eigenen Kindern, die nun zu Trägern des Hasses geworden, aber vielleicht eines Tages, wenn einige von ihnen in der Reue die Wahl zum Sein träfen, ihren Vater wiederentdecken und zu Trägern der Liebe, und sei es einer hilflosen, werden sollten. Liebe hieß für Kain, seine Freiheit zu opfern und die Geschichte seines Vaters zu wählen, indem er seinem Toten sagte: Deine Fehler sind auch meine Fehler!



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Das ist nur ein poetischer und beschönigender Nachtrag zur Kain-Allegorie. Ist es trotzdem keine Wahl?

Für andere beruht die negative Wahl, d.h. die Wahl, die Geschichte der anderen nicht auf sich zu nehmen, auf dem Bewusstsein einer existenziellen Absurdität. In der negativen Wahl grenzt sich die Existenz von einer Gesellschaft ab, die sie als fremd und zufällig empfindet, als eine Art Menschheit, die keiner Wahl würdig ist, weil sie ihrerseits keinen Menschen wählt. In seinem Geworfensein und im Bewusstsein, ein Kind des Zufalls zu sein, erkennt sich ein bestimmter Mensch als eine Existenz ohne Geschichte und bekennt sich zu dieser Geschichtslosigkeit. Dieser Mensch ist nur bereit, sich die Geschichte seines eigenen Lebens zuzuweisen, die ja die Geschichte seiner Verzweiflung, der Taten seiner Revolte gegen das Absurde ist. Die Wahl zur Geschichtslosigkeit legt einen Zweifel an der Durchführbarkeit ethischer Grundsätze an den Tag. Dieser Mensch ohne Geschichte erkennt den Mangel einer universalen Urteilsregel für ungleichartige Diskurse. Er weiß, dass es keine Zukunft außerhalb des Jetzigen gibt, und dass die Ethik, die sich jetzt nicht verwirklichen lässt, sich niemals verwirklicht.

Die Absurdität der Existenz, welche die negative Wahl beklagt, hat zwei Dimensionen: Die des Zustands und die des Ursprungs. Die Absurdität des Zustands ist jene der Leere, in der die Existenz sich in einem Zustand ungebrauchter Freiheit empfindet. In der Vergeudung der Freiheit durch Nichtgebrauch drückt sich diese Absurdität aus. Sie wird aber in der Wahl zum Sein überwunden und ist in dieser Hinsicht eine konstruktive Absurdität, deren Unerträglichkeit der Existenz nahe legt, sich selbst zu wählen. Indem die Existenz die Wahl zum Sein trifft, opfert sie ihre Freiheit, aber indem sie ihre Freiheit opfert, befreit sie sich von der Absurdität des Zustandes.



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Eine zweite Dimension umfasst das Geworfensein – die Absurdität des Ursprungs. Plötzlich kommt die Existenz zu Stande. Das Wort aber, in seinem Willen zur Ordnung, in seinem Drang, den Dingen Bedeutung zuzuweisen, kann nicht genau erklären, warum die Existenz hätte zu Stande kommen müssen. Manche Menschen finden in diesem Rätsel einen Zugang zur Religion. Aber für alle könnte das griechische Axiom gelten: Was sich nicht lösen lässt, ist gelöst. Es gibt keine notwendige Erklärung dafür, warum Gott oder der Zufall einen Menschen entstehen lässt, bzw. warum Gott oder der Zufall überhaupt existieren müssten. Ein Mensch wird aber erschaffen oder geworfen oder verlassen. Er wird geboren. Diese unerklärliche Gegebenheit der bloßen Existenz ist dennoch eine harmlose. Sie ist eine Absurdität, die der Existenz nichts nimmt, im Gegenteil, indem sie die Existenz wie aus dem Nichts gebiert, schafft sie zugleich den Raum für eine konstruktive Absurdität, in der die Blöße ihre Freiheit entdecken und gebrauchen kann.

Die Absurdität des Ursprungs kann nicht gelöst werden, ihre Unlösbarkeit ist ihre Lösung. Die des Zustands ist die existenziell relevante, also jene, die ein bestimmter Mensch durch den Gebrauch seiner Freiheit überwinden kann und sollte, wenn er seine Existenz nicht nur in ihrer bloßen Gegebenheit, sondern auch in ihrer herausfordernden Suche nach ethischer Fülle erfahren möchte.



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Die Absurdität ist also kein berechtigter Grund für einen Menschen, das Geschichtslose zu wählen. Die des Ursprungs ist eine ethisch und existenziell neutrale. Aber selbst die des Zustands, in der viele die Hoffnungslosigkeit der Existenz erkennen, weil ethische Grundsätze sich nicht verwirklichen, bezeichnet eher die Unberechenbarkeit der Freiheit. Weil aber die Freiheit bestimmter Menschen zusammen genommen keine ethischen Grundsätze in ihrer Vollkommenheit verwirklichte, dürfen wir nicht annehmen, dass andere Menschen ihre Freiheit nicht verantwortungsvoller gebrauchen werden, sonst wäre ihre Freiheit berechenbar. Der Gebrauch der Freiheit in der Zeit sollte also weder ein Gegenstand der Hoffnung noch der Verzweiflung sein, sondern nur der Verantwortung des Handelnden.

Die Wahl zum Sein, in der die Existenz in der Reue ihre eigene Geschichte bekennt, eröffnet uns die Möglichkeit, eine weitere Geschichte, die Geschichte eines bestimmten Geschlechts als die eigene zu wählen. Aber kein Mensch und kein Geschichtsbuch kann einen anderen dazu zwingen, die Geschichte einer bestimmten Gesellschaft anzunehmen. Ein Geburtsort, ein Datum ist ein reiner Zufall, eine Gegebenheit der Blöße. Das eigene Bekenntnis zur Gesellschaft ist hingegen das Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Wer seine Geschichte von Dritten übernimmt, verzichtet auf Verantwortung. Wer aber bei der Verantwortung beharrt, gebraucht seine Freiheit und bekennt sich zur Geschichte eines bestimmten Geschlechts, bekennt sich also zu Menschen, die der Wählende liebt und deren Leid in der Zeit er freiwillig teilen wird.



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V


Die Wahl zum Sein manifestiert sich in ihrer gesellschaftlichen Umwelt, dem einzigen möglichen Szenario für ihre Verwirklichung. Aber weil diese die Wahl eines bestimmten Menschen und nicht die seiner gesellschaftlichen Umwelt ist, erfordert die gesellschaftliche Existenz dieses Seins ein dialektisches Handeln zwischen Anpassung und Widerstand. Anpassung ist nötig, weil die gemeinsame Umwelt sich nicht zur Verfügung eines einzelnen Menschen stellen wird. Aber auch Widerstand ist nötig, wenn die Umwelt einem bestimmten Menschen die Grundbedingungen zur Selbstentfaltung verweigert.

Wenn ich behaupte, dass Kain eine Stadt erbaute, prüfe ich nicht, wie durchführbar diese Entscheidung in Kains Umwelt war. Ich nehme die bloße Tatsache als gegeben an: Er wollte es und er tat es. Aber in der entmystifizierten und entromanitisierten Welt stößt die Wahl zum Sein auf die Tatsache, dass die gesellschaftliche Umwelt bereits eine Wahl über das Leben eines bestimmten Menschen getroffen hat, einen impliziten Plan. Kain folgte ursprünglich einem beruflichen Werdegang, einem vorgegebenen, bevor er die Revolte, die Reue und die Wahl zum Sein fand. Als Ackermann musste er einer Tätigkeit nachgehen, die in einer unfreiwilligen Verarbeitung seiner physischen Umwelt zur Deckung biologischer Bedürfnisse bestand, und musste dieser Arbeit seine Existenz unterwerfen. In seiner ästhetischen Naivität wollte der Ackermann aber Bildhauer werden, weil er die Schönheit der Formen liebte. Heute beschäftigt sich ein anderer Mensch etwa in der Dienstleistung, weil er die nötigen Tauschmittel zum Überleben braucht. Er wollte etwas anderes werden, aber seine gesellschaftliche Umwelt hatte diesen Plan für ihn und er nahm ihn an.



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Der vorgegebene Plan mag in vielen Fällen ein sinnvoller sein und die Existenz erfüllen. Aber die Arbeit, in der die Existenz in der Ware oder im Dienst verschwindet, entwendet dem Arbeiter die Möglichkeit zur Seinswahl, und gegen die Arbeit als Seinsentwendung ist ein existenzieller Widerstand berechtigt. Und dennoch muss ein Mensch in seinem Widerstand darauf achten, dass die Gesellschaft und schließlich er selbst nicht an diesem Widerstand zu Grunde gehen, wie es bei Kain in der Revolte der Fall war. Da die Umwelt in ihrer Blöße Menschen dazu zwingt, zusammen zu leben, wollen sie möglichst als Freunde leben, denn selbst in rein ästhetischer Hinsicht ist Zuneigung eine harmlosere, ich darf sagen: schönere Empfindung als Hass, sodass es nicht schön ist, eine Gesellschaft lieber zerstören zu wollen als sie bei der Wahl zum Sein ein bisschen zu berücksichtigen. Der existenzielle Widerstand könnte ein konstruktiver sein, in dem die Existenz ihre Wahl im gesellschaftlichen Umfeld zu behaupten versucht, aber zugleich versucht, in der Wahl einen Beitrag für ihre Umwelt zu konstruieren.



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Die Seinswahl heißt uns die Existenz in ein sinnvolles Werk verwandeln. Die Erschaffung des Seins als eines existenziellen Werkes verlangt also Engagement – sie verlangt Arbeit, sodass jede Wahl eine Wahl zur Arbeit ist. Nicht von ungefähr behauptet Kierkegaard, dass die Existenz erst in der Arbeit zeige, dass sie mehr als bloße Existenz, mehr als physische Umwelt sei. Die Arbeit bezeugt in der Tat den Gebrauch der Freiheit in der Wahl. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Wahl zur Arbeit eine bloße Berufswahl sei. In der Wahl entscheidet sich die Existenz, an sich selbst zu arbeiten. Diese Arbeit findet oft ihren Ausdruck in einem beruflichen Beitrag für die Gesellschaft, wenn der Beruf dem Gefühl der Berufung entspricht. Schwieriger wird es, wenn die Wahl keinem konventionellen beruflichen Werdegang entspricht. Wenn ich mich heute aus finanziellen Gründen an der Dienstleistung betätige, weil ich „keine andere Wahl“ habe, dann fehlt mir der Mut, mich zu meiner inneren Wahl zum Sein zu bekennen, denn der Mut ruft mich zum konstruktiven Widerstand auf, ich aber denke lieber an das Gehalt. Die Wahl ist mir schon gegeben, aber sie hat ihren Preis, sie verlangt ein bestimmtes Opfer.



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Wenn ich mich entscheide, Schriftsteller zu werden, weil das Schreiben mich erfüllt, aber mit niemandes Unterstützung, mit niemandes Dank und Anerkennung, nicht mit Verlag und Vertrag, nicht mit Familie und Freunden rechnen kann, weil niemand an mich glaubt, und ich in meiner Wahl vollkommen verlassen bin, als ob die ganze Welt gegen mich wäre, dann weiß ich, dass ich mit keinem festen Gehalt oder Status, unter Umständen nur mit dem Dach einer Brücke rechnen darf, der Entbehrung, die mich „im Glutofen des Elends prüft.“ Aber ich weiß auch, dass ich die Schönheit der Existenz nur dann in ihrer Fülle erfahre, wenn ich auf meine Wahl zum Sein beharre, auf den konstruktiven Widerstand, bei dem ich mich scheinbar von der Gesellschaft zurückziehe und gleichzeitig doch gedenke, in meinem Werk einen Beitrag zu leisten, Menschen durch meine Worte zu ergreifen und zu mahnen, gleichgültig, ob die Worte tatsächlich gelesen werden. Indem ich treu bei meiner Seinswahl bleibe, werde ich am Ende meines Lebens mehr gearbeitet haben als jener, der sich nur wegen des Gehalts an der Dienstleistung betätigte, denn das Opfer meiner Freiheit war größer als seines: Ich hatte viel zu verlieren und ich habe alles verloren, außer mich selbst in dem Werk, das ich in konstruktivem Widerstand aus mir selbst machte. Aber habe ich den Mut, mich derart selbst zu wählen, dass ich in diesem existenziellen Widerstand einen Beitrag für die Gesellschaft leiste und zugleich der Autor meiner eigenen Geschichte bleibe?



Folium VIII






Kunst der Geschichtsschreibung





Wir sollen nicht über das Schöne zanken. Die Pragmatik der alttestamentarischen Liedermacher hätte Aristoteles zu schaffen gemacht, das ist ja wohl bekannt, und dennoch kamen jene ersten Dinosaurier der Kunst mit der Begrenztheit ihrer Mittel ziemlich gut klar. Sie brauchten keine Wagneroper, sie zogen dem famosen Beiwerk eine rigide künstlerische Diät vor, etwas wie eine Politik der Austerität wie sie heute wieder en vogue ist. Aber diese Vorliebe für das Unentbehrliche können wir ihnen nicht verdenken. Es sei ihnen ganz gegönnt, dass sie durch eine Art wirtschaftliche Bewusstwerdung das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit erlangten und in ethischer Askese zu Propheten der Sparsamkeit wurden wie unser Beethoven, der späte, bei dem jeder Ton so peinlich durchdacht, ja unverzichtbar erscheint.

Aber ein Mindestmaß an Dezenz erfordert diplomatisches Geschick, und sich in die eitle Frage einzumischen, wie eine bestimmte Künstlerin ihre Schreiberei gestalten solle, hat schon manche Freundschaft zerstört. Geschick liegt eher darin, Kunst so zu nehmen, wie sie kommt. Den einen treibt solch ein unruhiges Verlangen nach Unendlichkeit, dass er wie Wagner sein Lob des Erhabenen, ja des Übermenschlichen derart gestaltet, dass er gern einen Sturm aus einem Tropfen macht und im Orgasmus des Beiwerks oft Beifall, ein höchst dankbares Publikum erreicht. Der andere aber bekehrt sich zu einer gewissen Einfachheit und errreicht das Publikum, indem er sein Werk zerhackt und aus dem Sturm nur einen Tropfen übriglässt.



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Aus diesem Grunde ist es wenig empfehlenswert, über die künstlerische Gestaltung der Geschichtsschreibung zu streiten. Der Streit selbst hätte ohnehin etwas äußerst Luxuriöses in sich, bedenkt man die herrschende Meinung unter Fachleuten, dass Geschichte als Gegenstand einer Wissenschaft keine Kunst sei. Der Wettbewerb wäre ein sehr ungleicher und manche Gelehrten möchten gern das Szenario verhindern, in der die Ablenkung der Kunst historische Inhalte zu bloßer Unterhaltung degradiert. Der Gedankengang ist verständlich und sogar voraussehbar, und es wäre ein unartiges Benehmen, Wissenschaftler daran zu erinnern, dass sie schlicht keine Ahnung von Kunst haben (und damit ihre eigene Literatur in ein dubioses Licht zu stellen), denn es gibt einen eleganteren Zugang zu dieser Frage, und ich möchte es in der Tat vorschlagen, dass wir zuerst einmal ganz unprätentiös die Eigentümlichkeiten des wissenschaftlichen und des künstlerischen Zugangs zur Geschichte beschreiben und prüfen, inwiefern sie sich voneinander unterscheiden und ob sie sich ergänzen mögen. Über das weitere wird später gezankt.



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Beginnen wir ohne Umschweife. Argumentation wird oft in methodischen Abhandlungen artikuliert, und diese unterscheiden sich in zwei Gattungen: Besprechung und Essay. Erstere erörtert Inhalte, indem sie mit einer (meist akademischen) Tradition debattiert, die sich zu demselben Thema äußert. Wer könnte denn Dr. Helmut Institoris vergessen, den Privatdozenten in Doktor Faustus? Der Neuankömmling, der über die Renaissance schreibt, muss natürlich Dr. Institoris zitieren, den gefeierten Protagoras, um als seriös zu gelten. Wenn Protagoras sich im Grünen ergeht, folgt ihm, entzückt von seiner Orpheusstimme, ein herrliches Studentengefolge in choreografischer Treue. Und wenn Protagoras sich umdreht, teilt sich das Gefolge sofort in zwei harmonischen Reihen und stellt sich protokollgemäß hinter ihn, damit niemand vor ihm stehe – ein rührendes Beispiel der Anerkennung, die ein Mensch zu genießen vermag. Aber damit die Argumentation der Tenor einer Besprechung bleibe, darf die Debatte sich nicht auf panegyrische Fußnoten beschränken und die Blöße der Methode zum Endzweck erheben. Die Argumentation einer Besprechung sollte möglichst eine selbstständige Schlussfolgerung aus der Debatte wagen, statt sich nur hinter das choreografische Gefolge zu stellen. Eine gelungene Besprechung verkörpert eine (akademische) Tradition in Gespräch mit sich selbst. Fragestellungen, die ein Forschungsgebiet innerhalb bestimmter Rahmen erfassen, erweitern oder verändern, finden dort ihre ideale Stätte.



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Aber die Argumentation eines Essays wird freier gestaltet, was Dr. Institoris bereits Unbehagen bereitet. Ein Essay über die Renaissance wird ja die golden verzierte Jubiläumsausgabe seiner „Geschichte der Renaissance“ nicht unbedingt zitieren, und das Institut dieses Privatdozenten wird den Essay der Rücksichtslosigkeit bezichtigen, aber gerade das Rücksichtslose macht aus dem Essay eine anspruchsvollere, wenn auch verwundbare Gattung, die sich am besten für die Entfaltung einer umfassenden, aber durchaus nicht liederlichen Argumentation eignet. Ein Beispiel dafür ist das Außerordentliche, das Grundsätzliches infrage stellt oder das Gespräch mit einer Tradition, etwa der Institoris-Partei, zu ändern beabsichtigt, oder aber einen selbstständigen, in sich geschlossenen Zusammenhang von Betrachtungen erarbeiten will. Wahrzeichen der Besprechung ist das Zitat in den Fuß- und Endnoten, eine wissenschaftliche Liturgie, die mit der Scholastik beginnt, der Wiedergeburt oder, christlicher gesagt: Auferstehung der Sophistik. Wer mitreden will, muss zuerst das ganze Credo wiedergeben, nämlich, wer schon was und in welcher Reihenfolge in Bezug auf die respektive theologische Debatte behauptete. Die Praxis hat ihre Berechtigung, und noch erwarten einige vom Institoris-Institut, dass Neuankömmlinge „alles lesen“, bevor der eigene Gedanke geboren wird. Im Essay hingegen ist der Gedanke nackt. Die Aussage in ihrem reinen Inhalt gibt den Ausschlag, gleichgültig, wer sie wann äußerte, wie es bei den philosophischen Traktaten der Fall ist, die Geschichtstheorie und -philosophie behandeln.



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Die Besprechungen des Privatdozenten Dr. Institoris mischen oft Argumentation und Erzählung. Die Rolle der Argumentation ergibt sich aus dem oben Gesagten. Natürlich besteht Geschichte auch aus Erzählungen, aber wo Erzählungen nicht ohne Weiteres als letztes Wort der Wahrheit anerkannt werden können, dort gilt es, deren Wahrhaftigkeit durch Argumentation zu spekulieren. In jeder Erzählung, auch in einem Doktor Faustus treten Argumente auf, sobald der Erzähler etwa die Gründe eines bestimmten Verhaltens erläutern will. Dass aber nicht jede Erzählung als ein Monument der Rhetorik gelten darf, bedeutet nicht, dass eine Besprechung, wo Erzählung eine Rolle spielt, durch dieselbe Erzählung keine literarische Dimension anzunehmen vermag. Es findet sich in diesen gelegentlichen, bruchhaften, durchaus zerstreuten Erzählungen oft kein Raum für eine dramatische Spannung zwischen ihren Figuren oder Elementen, aber in ihrem Kern behält die Besprechung doch Merkmale der literarischen Erzählung, neben dem Ernst also eine gewisse Liederlichkeit, wenn wir die Sache nun puritanisch betrachten.

Aber die Unterscheidung zwischen Essay und Besprechung ist eine sehr allgemeine und auf viele Fächer anwendbar. Wenn wir jetzt nur die Beschäftigung mit Geschichte unter die Lupe nehmen, können wir dort zwei Arten der Behandlung unterscheiden: Geschichtsbesprechung und Geschichtsschreibung. Geschichtsbesprechung, wie der Name sagt, ist eine Besprechung. Wenn sie eine Geschichte behandelt, etwa die Geschichte der Renaissance, setzt sie die allgemeine Handlung als bekannt voraus und erforscht eher Einzelheiten des Inhalts, indem sie mit einer vorgegebenen Tradition debattiert. In ihr überwiegt die Argumentation, und die Anwendung beschreibender Theorien dient in ihrer Spekulation einem argumentativen Zweck. Erzählt im klassischen Sinne werden höchstens Teile der Handlung, die durch neue Inhalte erweitert oder verändert werden, sofern der Neuankömmling wider Erwarten eine Lücke entdeckt, etwa in der Jubiläumsausgabe des Dr. Institoris, was nicht wahrscheinlich ist.



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Die Methode der Geschichtsbesprechung umfasst ihrerseits zwei Werkzeuge, deren Unterscheidung wir Gustav Droysen verdanken: Forschung und Darstellung. Forschung ist eine methodische Suche nach Antworten, nach einer Lösung für ein ganz bestimmtes Rätsel des Vergangenen, oder Erzählten, wobei auch die Fragen sollten methodisch gestellt werden. Nicht der Glaube an wirkliche Vergangenheit ist es, der die Forschung des Dr. Institoris methodisch macht. Sein Werk beginnt bereits in der Fragestellung, und methodisch mag allein die Art und Weise sein, wie der Privatdozent mit seinen Fragen spielt. Das Szenario war auch Droysen bekannt, als er an seiner epochemachenden „Geschichte Alexanders des Großen“ arbeitete. Ein Haufen Erzählungen über Alexander lag ihm vor, auch zeitgenössische Besprechungen. Aber vieles schien dem Historiker unklar und er empfand das Bedürfnis, die historische Handlung kohärent zu konstruieren, indem er seine Hilfsquellen in aller Sorgfalt las und weitere suchte, miteinander verglich und bewertete. Natürlich las er mehrere Besprechungen, in denen die Protagaras seiner Zeit, zu denen er selbst gehörte, Stellung zum Thema nehmen, und nahm ja selbst seine Stellung, schloss sich an, regte sich auf, verstand, verwarf. Seine Forschung bestand grundsätzlich in diesem methodischen Spiel mit Texten.



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Aber mit Forschung allein ist der Leserin wenig gedient, denn die Forschung muss noch Zugang zu sich selbst erlauben, sich also verständlich darstellen. Darstellung, wie der Name es auch hier verrät, ist die schriftliche Niederlegung der Ergebnisse einer Forschung. Droysen beschreibt hier das Problem seines Alexanders, erzählt die Entwicklung seines Forschens, die Konflikte einer Debatte, und argumentiert für bestimmte Lösungen. Eine kleine Kunst gehört dazu, eine Kunst, die sich als nicht so klein entpuppt, wenn man bedenkt, dass die Forschung ohne sie nicht bestehen kann, denn die Forschung ist kein Selbstzweck, sondern die Mitteilung der Forschung ist der Forschung Zweck, und in der Mitteilung offenbart sich die Forschung als Darstellung. In der Darstellung Alexanders erzählt Droysen seine Heldengeschichte auch dann, wenn er nicht zu erzählen scheint, wenn er scheinbar nur eine Theorie debattiert. Seine Darstellung erzählt auch, wenn er durch seine Fragen an eine Quelle, eine Besprechung, eine Deutung, die Handlung seiner Geschichte indirekt wieder, weiter oder anders erzählt. Auch der ehrwürdige Dr. Institoris, der in seiner goldenen Jubiläumsausgabe mehr argumentiert als explizit erzählt, erzählt implizit in seinen Argumenten, weil der Privatdozent für oder gegen ein bestimmtes Handlungsszenario argumentiert. In der Darstellung einer Forschung also umfassen Argumente immer eine implizite, wenn auch bruchhafte Erzählung.



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Die zweite Art der Beschäftigung mit Geschichte ist aber die Geschichtsschreibung, ein Zugang, für den die Mittel der reinen Geschichtsbesprechung nicht ausreichend sind. Geschichtsschreibung ist die historische Darstellung, in der eine Handlung vollständig erzählt wird, wobei vollständig nicht vollständig an sich bedeutet. Der Erzähler ist es, der wie etwa Friedrich Schiller seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ eine subjektive Vollständigkeit verleiht und, indem er diese Geschichte mit neuen Akzenten wieder erzählt, sich nicht auf die miserablen Mittel des Institoris-Instituts und dessen Geschichtsbesprechungen beschränkt, sondern wagt, eine Geschichte mit Anfang und Ende zu erzählen, eine Entität zu erschaffen, die narratologisch selbstgenügend ist, eine im Kern literarische, wenn auch wiederum nicht liederliche Darstellung, eine Gesamtheit, die nach Golo Manns Anweisungen mehr als eine Summe isolierender Analysen sein muss und im Falle Schillers tatsächlich ist.



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Dr. Institoris aber lässt sich nicht viel gefallen. Er wehrt sich vehement und verurteilt die Geschichtsschreibung, die Schiller im Schilde führt, und, ich darf sagen, der Mann nimmt den Mund ja ziemlich voll: Jeder Zugang zu Geschichte außerhalb der akademischen Besprechungen stelle keine methodische Abhandlung dar, und sein ganzes Institut steht wiederum hinter ihm, Studenten wie Professoren. Dieses Verhalten ist insofern bedauerlich, als die Stellung unseres lieben Privatdozenten ihn wie keinen anderen quasi dazu prädestiniert, die Blöße der Geschichtsbesprechung durch das Wagnis der Geschichtsschreibung zu überwinden. Stattdessen schreibt er ein Anathema nach dem anderen und verbringt seine Tage auf der Suche nach Belegen, denn er will belegen, dass Schillers Werk historische Zusammenhänge außer Acht lässt und dass die Erzählung den Quellen und nicht zuletzt seiner Jubiläumsausgabe widersprechen, das Gesamtbild also höchst fragwürdig sei. Aber, ganz entre nous: Seine Jubiläumsausgabe, jene preisgekrönte „Geschichte der Renaissance“ enthält nicht einmal eine Geschichte. Institoris ist nach wie vor ein Meister des Revuepassierenlassens, ein Bücherwurm, der in seiner Renaissance-Besprechung die Forschung der letzten hundert Jahre religiös durchwühlt und die Highlights hervorhebt. Die Akteure seines Konflikts sind nicht etwa Akteure der Renaissance, sondern ältere Forscher, die er im Zuge seiner wissenschaftlichen Dramatisierung miteinander kollidieren lässt, nur hie und da nimmt er Stellung dazu. Und dennoch erwarb er sich mit seiner „Geschichte der Renaissance“ und deren generösen Fußnoten, die so vielen angestellten Koryphäen seiner Tradition einen Dienst erwiesen, den Ruf eines sauberen, eines in seiner unerschütterlichen Sachlichkeit höchst seriösen Historikers, ja einer absoluten Respektsperson: des Gelehrten comme il faut.



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Aber der Einwand des Gelehrten, dass nur Geschichtsbesprechung eine methodische Geschichtstechnik bilde, ist ein ganz, ganz böser, denn tatsächlich kommt es in der Geschichtsschreibung nicht auf eine strenge Argumentation an, das räumen wir ein. Der Wert einer literarischen Geschichtsschreibung muss dennoch den Regeln der Forscherin und deren Ergebnissen nicht widersprechen und nicht einmal außer Acht lassen. Droysens „Geschichte Alexanders des Großen“ ist in ihrem explizit subjektiven Anspruch auf erzählerische Gesamtheit ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung ohne Gewissensbissen. Aber zu behaupten, dass selbst der Begründer des Historismus nicht in der Lage war, Geschichtsschreibung zu wagen, ohne die Wissenschaftlichkeit seiner Methode im Schlamm einer niedrigen Literatur zu besudeln, erfordert Mut. Droysens Alexander ist eine beachtliche Brücke zwischen Geschichtsbesprechung und Geschichtsschreibung, ein offensichtlicher Beweis dafür, dass ein gewissenhafter Historiker sich natürlich für die Geschichtsschreibung eignet. Wie denn nicht? Durch seine Studien lernte Gustav Droysen wie vor ihm in freierer Form Schiller, erzählende Kunst zu erschaffen, ohne die Besprechungen der Tradition verachten zu müssen. Nur noch ein weiterer Punkt, bevor wir die Toten ruhen lassen: Wie glücklich darf sich ein Geschichtsschreiber nennen! Die Literaturforscherin, die unveränderliche Erzählungen wie Doktor Faustus bespricht, dessen Inhalt niemand infrage stellt, darf und soll und muss sogar sich mit einer Besprechung begnügen, denn sie hat der Handlung nichts hinzuzufügen. Der Geschichtsforscher bespricht aber veränderliche Handlungen, Erzählungen, die ständig debattiert, konstruiert und rekonstruiert werden, wie eben die Geschichte eines Alexanders oder die Geschichte der Renaissance, die immer neuerer Betrachtungen bedürfen. Da reicht eine Besprechung nicht, da darf und soll und muss die Forscherin sogar die Handlung mitschreiben, zu einer Art Schriftstellerin werden, damit ihre Tätigkeit ihre Fülle erreiche. Wer diese Wahl verweigert, der weiß nicht um sein Glück.



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Ohne ein gewisses erzählerisches Bewusstsein gelingt die Chose nicht recht. Dies erkannte schon Gustav von Aschenbach, der geadelte Literat in Tod in Venedig. Es sollte den Leser nicht überraschen, dass diese hoch spannende Figur, die Thomas Mann nur äußerst bruchhaft und selektiv, ja kleinlich beleuchtete, neben seinen Romanen auch Geschichtswerke schrieb. Die Quelle seines know-hows? Aschenbach besuchte dasselbe Institut, das unseren Dr. Institoris zu einer Respektsperson machte! Aber das waren Zeiten für sich, und über den Streit zwischen zwei eifrigen Akademikern, der den jungen Aschenbach sein Prestige und seine beachtliche Stellung im Institut kosten sollte (und deren Einzelheiten oft in die Münchner Presse gelangten), möchte ich lieber schweigen, um den Geschmack dieses leichten Essays nicht zu verbittern. Es sei nur erwähnt, dass diese beiden nicht wieder miteinander sprachen.

Aber der Verlust seiner Stellung war für Aschenbach ein Freiheitsbrief, denn von nun an arbeitete er ungehindert, ja fast frenetisch an seiner „Geschichte Venedigs in der frühen Neuzeit.“ Aschenbach erreichte durch seinen Umgang mit der Redekunst eine einzigartige Darstellung, die noch heute an eine frische wie erfrischende Rede erinnert. Der Literat erkannte wohl, dass das Viel-zu-Viele nur unbemerkt bleiben kann und dass sein historisches Lebenswerk beschränkte Mittel verlangte. Er nannte dies die Sparsamkeit des Schönen – eine scheinbare, oder vielleicht sogar wahre Einfachheit, die das Ohr des Lesers noch mehr als das Auge reizt. Kaum eine geschichtliche Abhandlung lässt sich so gut wie sein Venedig-Werk vortragen, denn Aschenbach schrieb wie ein freier Redner spricht, ein vielfältiger, der bald elegant auftritt, bald aber wie ein prähistorischer Stammführer redet, ein ganz schriftloser, um den sich einst die Jünger versammelten, um zu hören, wie der Weise seine Stimme erhob und dem Volk erzählte, was er sah und hörte.



Kunst der Geschichtsschreibung Folium IX






Aber Aschenbach war kein eitler Protagoras, nur weil er seine Geschichte erzählte und wusste, sie zu erzählen, und auch wusste, dass Erzählung der Anfang aller Geschichte ist. Der Abtrünnige vom Institut verkörperte in seiner stilistischen Sparsamkeit eine Neuerfindung der Geschichtsschreibung. Seine Wörter ließen und lassen sich leicht aufnehmen und gar wiederholen, so singbar ist ihr Vortrag. Schon die Griechen wussten, bestimmte Silben in ein durchdachtes Verhältnis zueinander zu bringen, und wie die Griechen verstand Aschenbach das Metrum, Rhythmus, und Klausel als Hilfsmittel fürs Auswendiglernen der Worte. Sparsamkeit im Reden ist der Ursprung der Dichtung, und in Aschenbachs „Geschichte Venedigs“ offenbaren fast alle wesentlichen Stellen eine diskrete dichterische Dimension, aber nicht nur eine dichterische. Man denke nur an die bildhafte, aber in ihrer wissenschaftlichen Tiefe dem Institut durchaus angemessene Beschreibung der Kaufleute in der Serenissima, den sozialen Aufschwung und langfristige Dekadenz ihres Standes. Aschenbach war es nicht daran gelegen, menschliche Tiefe zu vereinfachen, Konflikte in ihrer Zeitlichkeit auf den einfachen Nenner des bloßen Was-sich-hie-und-da-begab zu bringen – nein, sein Begriff der Eleganz erhob einen hohen, durchaus menschlichen Anspruch, und wer in der Prosa dieses Geschichtsschreibers nur die stilistische Sorge erkannte, tat ihm großes Unrecht.



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Dr. Institoris, der Gelehrte, legte den ganzen Wert seines Wirkens auf die Forschung, und deshalb war die Darstellung seiner Forschung nur von Bedeutung, solange die Ergebnisse noch galten. War die goldene Jubiläumsausgabe einmal überholt, ging seine „Geschichte der Renaissance“ samt generösen Fußnoten zugrunde. Weil die Darstellung kein Endzweck, sondern nur ein Mittel der spekulativen Forschung war und also keine sprachliche Tiefe aufwies, war nicht nur die Forschung, sondern auch die Darstellung für die Katz. Aschenbach aber, wie vor ihm auch Theodor Mommsen, verzichtete in seiner Geschichtsschreibung keinesfalls auf wertvolle Forschung, bescherte aber der Darstellung eine mindestens genauso sorgvolle Behandlung. Zu wissen, wer sich wo zitieren lässt, war nicht einmal der Anfang seiner Arbeit. Der Unterschied zu Institoris? Inzwischen sind einige Ergebnisse jener „Geschichte Venedigs“ veraltet, jawohl, aber weil der Zweck der Darstellung sich nicht darauf beschränkte, eine Fußnote hie und da zu setzen, bewährt das Werk in der Tiefe seiner Sprache als einem inhaltsschweren Selbstzweck, nämlich dem Zweck, eine Geschichte überhaupt zu erzählen, einen gültigen Kern. Mag also der Inhalt infrage gestellt werden, vermag es die Darstellung, den Leser immer aufs Neue für sich zu gewinnen. In diesem Sinne ist die Geschichtsschreibung dauerhafter. Wenn sie niemals die Wahrheit einer historischen Wirklichkeit erreichen kann, erreicht sie mindestens ihre Leser.



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Lebenswerk eines Geschichtsschreibers wie Aschenbach ist die Suche nach einer eigenen Dichtung, denn er kam nicht von ungefähr auf seinen ganz persönlichen Grundsatz der Sparsamkeit. Nur allmählich erkannte er die Regeln seines Stils, versunken in der Stille seiner Wohnung, wo er das eigene Gemüt ergründete und erforschte, was ihn selbst berührte, und übte, mein lieber Schwan, und wie er übte, denn nur übend erfuhr er seine eigene Ebene des Schönen, die Dimension, in der sein Geschichtswerk ihn endlich zufriedenstellte. Inzwischen waren dennoch nicht weniger als zehn Jahre vergangen. Aschenbach wusste, dass er sich nicht wieder mit Geschichte befassen sollte, und tatsächlich widmete er sich nach der Veröffentlichung seines Geschichtswerks einer höheren Gattung der Literatur. Als dieses Buch, wie es nicht anders zu erwarten war, das ihm gebührende Lob vom Publikum zu ernten begann, ließ Dr. Institoris durch einen seiner Proselyten in der Presse anmerken, dass Aschenbachs Sprache trotz, oder gerade: wegen ihrer Eleganz von einem Bazillus geschwätziger Liederlichkeit zeuge, der vom historischen Inhalt nur ablenke. Aber Aschenbach erfreute sich inzwischen einer solchen Anerkennung, dass er nicht mehr auf die akademische Kritik zu antworten brauchte, denn in dem Moment, da er die Feder in die Hand nahm, erschien bereits ein langer Artikel nicht in München, sondern im Pariser Journal des débats, und zwar mit einem höchst freundlichen Vorschlag: Wenn man gedenkt, Ablenkung zu beseitigen, so beseitige man zunächst die Monstrosität, die sich Wissenschaftssprache nennt – ein „Ding“, dessen fachbegrifflicher Hokuspokus das Ablenkungsvermögen Aschenbachs bei Weitem übertrifft.



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Aber genug vom erzählerischen Bewusstsein. Die seichte Leichtigkeit, in der ich mein Anliegen vortrage, sollte keinesfalls als Vorbild betrachtet werden, im Gegenteil, ich schäme mich sogar für die Strapazen meiner Sprache, Wort für Wort, und ich gestehe es, ich hätte mein Gewissen nicht ertragen können, wenn ich nicht in der Hoffnung schriebe, dass der gelehrte Leser mir die furchtbare Unordnung wie Unordentlichkeit der Gedanken verzeihen wird. Wie dem auch sei, ich fahre gern mit unserem Privatdozenten Dr. Institoris fort, denn seine Kritik umfasste mehr als Hinweise zur Sprache, sie verurteilte (wohl implizit, weil Institoris nach der Antwort im Journal des débats es lieber vermied, Aschenbach beim Namen zu nennen) das Verhältnis des erzählerischen Bewusstseins, ja der Redekunst zur Wahrheit, insbesondere Aschenbachs freien Umgang mit Urteilen. Urteile sind ja nichts anderes als Wertungen und Wertungen fanden in den Abhandlungen des Instituts nie Eingang. Als Wissenschaftler verwirklichte Dr. Institoris sein Ideal: den Mann ohne Meinung, den Gelehrten, der alles weiß und nichts wertet, und er rühmte sich in dieser Rolle, seiner unerschütterlichen Sachlichkeit, die sich selbstverständlich nur mit Fakten befasste. Kein Wunder, dass der Privatdozent Aschenbachs Urteil über die Rolle der Kirche in der Serenissima, eine ganz explizite Wertung nicht ertragen konnte.



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Institoris und seine akademische Schule störte am meisten Aschenbachs fließende Rhetorik, eine Gewandtheit, die ihnen fast zu suggerieren schien, die Wahrheit des Redners-Erzählers sei nur eine rhetorische Größe, als ob es gar zum Redespiel gehöre, dass der Redner dem Hörer gelobe, die Wahrheit zu sagen, die Rede aber und der Redner unterschiedliche Wesenheiten seien. In der Tat war der Eindruck des Instituts nicht ganz fehl am Platze, denn es ist oft unmöglich, dass Rede und Redner eine Einheit bilden, dass der Redner seine Rede vollkommen verkörpert. Selbst ein erzählender Redner wie Aschenbach, der von seiner erzählenden Rede im Ganzen überzeugt war, konnte sie nicht als ganze Wahrheit verkörpern. In diesem Sinne aber verurteilte das Institut Aschenbachs Versuch, an der Tiefe einer Erzählung zu arbeiten, indem er etwa die Kirche und die Kaufleute in ihrem Konflikt beleuchtete und etwas wie ein Urteil über beide Akteure aussprach, um den Leser durch ein lebendigeres Bild zu berühren. Das Institut nannte es billigen Effekt und tat Aschenbach nur teilweise Recht, denn ein rhetorischer Effekt ist noch lange nicht billig, weil er rhetorisch ist – ein rhetorischer Effekt ist nämlich selten nur rhetorisch. Die Offenheit eines Urteils als rhetorischen Effekt demaskieren zu wollen, zeugt von mangelhaftem Verständnis der Rhetorik wie auch der Eigentümlichkeiten eines Urteils, das oft das Ergebnis eines durchdachten Gedankengangs ist. In der Offenheit des Urteils offenbart sich die Ehrlichkeit einer Rede, der die Rhetorik nicht gerade schadet, indem sie das Urteil glänzen lässt.



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Aschenbach urteilte ohne Gewissensbisse. Seine Wertungen drückten das ethische Verhältnis aus, das er zu seinem Publikum zu pflegen gedachte, denn selbst in seiner sanften Ironie schrieb er als ein Mensch, der mit Menschen spricht, und nur Mensch ist, weil er aus menschlichen Wertungen, aus Urteilen besteht. Aschenbach bekannte also sein Urteil und bekannte sich zu ihm. Indem ich dem Geschichtsschreiber diese Merkmale zuweise, behaupte ich nicht, dass Aschenbach ein Vorbild der Ehrlichkeit war, und dass es keine Lüge in der Redekunst gibt. Aber vielleicht hat der Gedanke seine Berechtigung, dass die Lüge des Redners eine Abwehrhaltung darstellt angesichts eines hohen Preises, den die Ehrlichkeit eines Menschen so oft zu bezahlen hat. Und dennoch befand sich Aschenbach in einer Lage, in der er sich sehr wohl leisten durfte, alles zu sagen, was er dachte, ohne mit der Strafe eines venezianischen Richters oder Bischofs rechnen zu müssen – er musste nur mit dem Unbehagen des Dr. Institoris rechnen.

Schwieriger wird es natürlich, wenn Urteile die Gegenwart und ihre vortrefflichen Diven betreffen, aber Aschenbach lernte schnell, mit solchen Urteilen vorsichtig umzugehen, und dies in den drei Hauptstufen der bürgerlichen Autorität: der Kirche, der Schule und der Partei. Schon als junger Mann machte er seine Erfahrungen in den drei Bereichen. Er wandte sich zunächst an die Kirche auf der Suche nach den Heiligen, aber der Hass der Heiligen enttäuschte ihn. Dann besuchte er höhere Schulen, in denen Gelehrte hausen, und wo er dennoch auf Menschen wie Institoris stieß und den eitlen Neid der Gelehrten erfuhr. Später versuchte er sich sogar in der Partei, um wie die Gerechten zu handeln, doch die Gerechten, die er dort traf, vertraten alles andere als Eintracht und Gerechtigkeit. So verließ Aschenbach auch die Partei und begnügte sich mit der Ehrlichkeit seiner historischen Arbeit, während der Heilige, der Gelehrte, der Gerechte seine Rhetorik billig nannten und das Gute predigten – dies, wohlgemerkt, nachdem sie so viele Gegner zerstört hatten, um sich den hohen Platz in ihren Stätten zu verschaffen. Aber Aschenbach war ein sehr pragmatischer Geist und ließ sich von diesen Kleinigkeiten nicht beeindrucken.



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Glücklicherweise haben wir hier mit historischen Urteilen zu tun, mit Wertungen, die nicht länger Gefahr laufen, die Empfindlichkeiten jedes Zweiten zu kränken. Aschenbach vermochte seinerseits, Urteile so zu problematisieren, dass sie sich nie als bloße Lob- oder Schmähreden entpuppten, sondern öfter die Handlung der Akteure in ihrer ethischen Widersprüchlichkeit auffasste und damit den Leser berührte, ohne ihn für eine bestimmte Einsicht zu bewegen. Sein Vorbild gibt sich eindeutig als Friedrich Schiller zu erkennen, der in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ die inneren Spannungen des Großinquisitor Granvellas zu Schrift bringt und dem Leser die entscheidende Wertung überlässt. Granvella wird wie ein dramatischer Charakter dargestellt, ein Mensch, von dem Schiller auch Vollkommenheiten mitnehmen muss, „die auch dem Bösesten nie ganz fehlen“, wie es im Vorwort von die Räuber lautet.

Schillers Granvella war ein Mann von Fleiß und Geduld, der mit „gewissenhafter Sorgfalt“ und „prüfender Vernunft“ handelte und dessen Treue als unbestechlich galt. Mit seiner „Schärfe des Geistes“ durchspähte er das Gemüt seines Herrn Philipp II. wie kein anderer. Aber derselbe Granvella, „zwischen dem Thron und dem Beichtstuhl erzogen“, „hochfahren und frech“, verachtete Menschen, rächte seine niedere Abkunft an dem Adel, war der „unversöhnlichste Feind“ der Protestanten und galt als „erster Urheber alles Elends“ in den Niederlanden. Natürlich weiß Schiller nicht, ob der Staat Granvella „Tag und Nächte, schlaflos und nüchtern“ fand, ob Granvella Wichtiges und Geringes mit gleicher Sorgfalt wog. Schiller erschafft aus seinem Quellenvorrat eine dramatische Person und beschreibt sie mit einer Rhetorik, die das Wahre nicht erreicht, sich aber im Rahmen des Möglichen bewegt. Sein Urteil steht nicht allein in der Luft, es ist vielmehr das Ergebnis eines argumentativen Versuchs, die Wertung plausibel zu machen und zu rechtfertigen, sie also mit der Kohärenz der Erzählung zu vereinigen.



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Natürlich beziehen sich Handlung und Urteil in der Geschichtsschreibung nur ausnahmsweise auf Einzelpersonen. Aschenbach befasst sich mit dem Klerus, mit dem Stand der Künstler und der Händler. Schiller beginnt seine Geschichte mit einer Darstellung geografischer Begebenheiten, fasst dann die politische Geschichte des Raumes zusammen und kommt zu einer ausführlichen Schilderung sozio-ökonomischer Entwicklungen. Der Dichter beschäftigt sich sogar mit der Inquisition und königlichen Eingriffen in die Verfassung der Niederlande und erläutert in den zwei ersten Büchern die Wurzeln des Konfliktes, um sich erst dann auf Personen zu konzentrieren. Er zögert übrigens nicht, hie und da eine Fußnote zu setzen, wo ihm die Aussage zu umstritten erscheint. Dass Aschenbach ein Verehrer Schillers gewesen sei, das wage ich nicht zu behaupten, und dennoch teilte er mit Schiller die Absicht, wie sie im Vorwort der „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ lautet, dem Publikum zu zeigen, „dass eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduldprobe für den Leser zu sein“, also die Absicht, vom Leser das Geständnis abzugewinnen, „dass die Geschichte von einer verwandten Kunst etwas borgen kann, ohne deswegen notwendig zum Roman zu werden.“ Aber solche Bekenntnisse besänftigten das Institoris-Institut überhaupt nicht, und Aschenbach blieb bis zu seinem Tod in Venedig ein Opfer dieses Grolls.



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Nun zur Vorbereitung der Suppe: Wir sollen nichts von Rezeptbüchern halten, die sich ständig um Salz und Dicke der Soße zanken. Wer dem guten Geschmack zu dienen gedenkt, sollte keine fertigen Zutaten kaufen. Ich muss das Publikum nochmals um Verzeihung bitten, denn mein wunderliches Rezept zur Kunst der Geschichtsschreibung werde ich nicht preisgeben – das wird, es sei mir gegönnt, ein Rätsel meiner Küche bleiben. Etwas wie die Gliederung eines Geschichtswerks vorzuschreiben wäre mir zu strapaziös, denn über das Schöne möchte auch ich nicht mit dem Institut zanken. Meine Vorschläge könnten nur für die Liederlichkeit meiner Suppe sprechen, und zu viele Köche verderben den Brei. Aber lasst uns nicht um den heißen Brei herumreden: Ich mache gern ein oder zwei Zugeständnisse. Geschichtsschreibung muss ja irgendwo beginnen, und wir sollten zunächst zusehen, dass dieser lose Anfang dem Werke nicht im Wege steht, bevor die wahre Kunst sich zu entfalten erlaubt. Ich möchte daher meine vornehme Leserin bitten, einige Beispiele für diese Liturgie des Anfangs zu beobachten, eine höchst unterhaltsame variety show, die sie vielleicht auf einen bedeutenden Aspekt der Geschichtsschreibung als Kunst aufmerksam machen wird.



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Wir kennen ja die Geschichtsbesprechung. Sie fängt stets mit einer Einleitung an, die eine Fragestellung benennt und rechtfertigt. Der Leser muss von einem gewissen Mangel im Forschungsstand überzeugt werden – schön und gut. Aber die Geschichtsschreibung besteht aus einmaligen Werken, die an keinen Forschungsstand gebunden sind. Woran ist Geschichtsschreibung gebunden, welcher Rechtfertigung bedarf sie? Lasst uns Ruhe bewahren, denn hier werden alle Antworten zugelassen, und zwar aus einem einfachen, doch inhaltsschweren Grund: In der Geschichtsschreibung sind Gebundenheit und Rechtfertigung der Gegenstand einer Wahl.

Selbstverständlich kann Geschichtsschreibung ganz ungebunden sein, ihren Anlass weder benennen noch rechtfertigen. Kein geringerer als Caesar begann seine Geschichte des gallischen Krieges mit der Darstellung von Räumen und Völkern: Gallien besteht aus drei Teilen, von Belgiern, Keltern und Aquitanern bewohnt. Der Römer stellte sich gar nicht die Frage: Warum soll ich dies schreiben? Wahrscheinlich setzte er den Anlass als bekannt voraus – eine Herangehensweise, die nicht nur den alten Knacker faszinierte. Etwas später, als der Krieg im brasilianischen Canudos ausbrach, entsandte die Presse einen Journalisten in den halbwüstigen Nordosten, um Bericht zu erstatten. „Os Sertões: Campanha de Canudos“ wurde geschrieben, freilich ein Bericht über die Gegenwart, aber darauf bedacht, eine Geschichte für die Zukunft zu sein. Euclides da Cunha begann, diesmal im Jahre 1897, ebenfalls mit einer Beschreibung des Raumes, der einige soziologische Betrachtungen folgten. Erst im dritten Teil des Buches begann die Handlung – abrupt: „Als es dringend wurde, die Wüste von Canudos zu befrieden, fand sich die Regierung von Bahia im Kampf gegen andere Aufstände.“ Cunha, dessen Sprache von unverkennbarer Bitterkeit zeugte, beschrieb den Kampf bis zur endgültigen Zerstörung von Canudos. Von Urteilen heilt er sich nicht fern: Kriegsverbrechen der Armee, Hinrichtung von Kindern, Frauen und ergebenen Rebellen klagte er an.



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Aber es gibt Geschichtswerke, die sich an ein Prinzip binden, gleich am Anfang ein ausdrückliches Ziel benennen und sich damit rechtfertigen. Anders als Caesar erläuterte z.B. Thukydides am Anfang seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges einen besonderen Grund: Der Geschichtsschreiber wusste, dass jener Krieg ein großer, und zwar „der denkwürdigste von allen“ werden sollte. Die Kampfbereitschaft beider Seiten und die Auswirkungen des Krieges (alle Griechen und sogar Barbaren schlossen sich der einen oder der anderen Seite an) bezeugten die Bedeutung der Ereignisse. Dieses Geschichtswerk ist an eine Art moralische Mahnung gebunden, eine düstere Reflexion, deren Inhalt in seiner Furchtbarkeit aber nur der Leser konkretisieren darf, denn Thukydides möchte keine Partei ergreifen, oder mindestens beide Seiten in ihrer Berechtigung darstellen. Cunhas Bericht und seine Urteile dürften auch als eine Mahnung betrachtet werden, aber weil Thukydides sein Ziel gleich am Anfang nannte, erweckte er eine Erwartung, die Cunhas Leser nicht hatten, weil die Handlung von Cunhas Bericht bereits ihre Selbstständigkeit erlangt hatte, als die moralische Mahnung sich nur langsam und implizit offenbarte, eine Mahnung, die nur eine nebensächliche Rolle spielen mag. Das Werk aber, das mit einem Bekenntnis zu dieser Mahnung beginnt, stellt die Mahnung als eine zentrale Rechtfertigung dar, ein Element, das die Leserin also als Priorität wahrnimmt und an dem sie sich orientieren wird.



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Die variety show geht weiter und die nächste Figur der Gebundenheit stellt sich vor: David Humes sechs-bändige Geschichte von England bekennt das Ziel, eine Geschichte zu schreiben, die sich auf verlässlichere Quellen stützt als persönliche Erinnerung und mündliche Tradition. Eine empirische Gebundenheit wird an den Tag gelegt. Statt glänzender Ereignisse möchte Hume soziale Strukturen wie Sprache, Recht und Sitten erforschen und sie mit anderen Kulturen vergleichen, um die Geschichte seiner Gesellschaft besser zu verstehen, womit auch eine methodische Gebundenheit zutage tritt – ein Beweis dafür, dass die Gebundenheit der Geschichtsschreibung gar nicht weit entfernt vom gattungsgemäßen Ziel einer Geschichtsbesprechung sein muss, in der es auch, und insbesondere, auf Wissenschaftlichkeit ankommt. Hume könnte sich gern mit dem Institoris-Institut verständigen und würde die Jubiläumsausgabe unseres Privatdozenten eher begrüßen, mit dem Unterschied, dass Humes Version einer „Geschichte der Renaissance“ trotz aller Sachlichkeit wahrscheinlich doch noch etwas erzählen sollte, was an eine Geschichte erinnert, und also mehr als eine Besprechung wäre.

Noch eine Figur? Friedrich Schiller exemplifiziert in der heroischen „Einleitung“, dem Proömium seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande eine andere Gebundenheit, eine Art aber, die das Institoris-Institut mit Sicherheit nicht willkommen heißen wird. Schiller geht nach seinem Sturm-und-Drang-Geist sehr frei und sehr offen mit Urteilen als „inneren Empfindungen“ um, aber vielleicht deswegen bemüht er sich am meisten, sein Werk vor dem Leser zu rechtfertigen (der Gebrauch der ersten Person erinnert an einen wirklichen Redner). Die moralische Gebundenheit unterscheidet sich hier von der des nüchternen Thukydides und berührt in ihrem hohen Anspruch eine philosophische Ebene: Schiller bekennt den existenziellen Zweck, „in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken“, sowie das ethische und politische Ziel, „ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung.“



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Dem Anspruch eines ähnlichen Rezeptes folgen Geschichtswerke, die mit einer Reflexion über den Menschen anheben, wie Tocquevilles „L'Ancien Régime et la Révolution“: „Nichts kann unsere Philosophen und Staatsmänner mehr Bescheidenheit lehren als die Geschichte unserer Revolution. Kein Ereignis war besser vorbereitet und weniger vorhersehbar.“ Andere aber wie Sallust ziehen ein langes Proömium vor, eine ausführliche Betrachtung über die Natur des Menschen, seine Existenz, das Wesen der Tugend, deren Anwendung im privaten wie im öffentlichen Leben, sowie über und den moralischen Nutzen der Geschichtsschreibung, die in Sallusts Fall die Wahrheit seines philosophischen Proömiums beweisen soll. Höchsten Bemühens bedürfe der Mensch – so beginnt seine Verschwörung Catilinas –, auf dass sein Leben nicht vergehe wie das Vieh. In Leib und Geist sei aller Menschen Kraft gelegen und richtiger sei es, sich durch geistige Kraft den Ruhm zu verschaffen, der uns in aller Erinnerung erhalte, als durch Reichtum und Schönheit, denn das Leben sei kurz, die Tugend aber erhaben und ewig.

Hier haben wie also mit einer teils metaphysischen Gebundenheit zu tun, einem oft gefährlichen und verwundbaren Rezept. Eine Verantwortung im Rausche der Begeisterung zu übernehmen, führte manchen zu Enttäuschungen: Kann der Ausgang einer einzelnen Geschichte wirklich beweisen, dass nur die Tugend Bestand in der Zeit habe, wie etwa David Hume of Godscroft am Anfang seiner frühneuzeitlichen „History of the House of Douglas“ behauptet, ohne etwa einen selbstständigen Begriff der Tugend zu erarbeiten? Auch Sallust erklärt nicht weiter, was Gesetz und Natur, Tugend und Elend seien.



Kunst der Geschichtsschreibung Folium X






Und dennoch gab es elegantere Formen des Umgangs mit dieser Unvollständigkeit der Gedanken, die den Geschichtsschreiber so unverschämt daran erinnert, dass dieser Künstler kein Philosoph ist, obgleich seine Aufgabe ihn oft zum Philosophieren ruft. Die Ungenauigkeit der Betrachtung, in philosophischen Begriffen etwas höchst Verwerfliches, zeugt manchmal von durchdachter Absicht, meistens im Dienste erzählerischer Zwecke, wenn z.B. eine philosophische Anschauung nur angedeutet wird, um im Leser eine Erwartung zu erwecken, eine Hoffnung, die der Geschichtsschreiber nicht erfüllen wird. Die Erzählung wird dem Leser die Bearbeitung eines philosophischen Problems überlassen, ihn zu einer persönlichen Auseinandersetzung anregen. Maire d’Agoult beginnt ihre „Geschichte der Revolution von 1848“ mit einem Hinweis auf rätselhafte Gesetze, die in jeder Gesellschaft eine doppelte Wirkung von Aufbau und Zerstörung ausüben. Im Grunde riecht es auch hier nach dem Topos der Vergänglichkeit – die Natur baut auf und zerstört –, aber der Gedanke erhält eine durchaus dramatische Farbe, wenn Marie d’Agoult die Rolle der Freiheit hervorhebt, die sich oft in das Rätsel jener Gesetze einmische. Ist die Spannung zwischen Aufbau und Zerstörung das dialektische Wirken von sich widersprechenden Gesetzen, oder sind Aufbau und Zerstörung zwei Gesichter eines einzigen Phänomens? Wir erfahren es nicht, der Gedanke bleibt unvollständig, die Antwort von der Leserin und ihren Betrachtungen abhängig.



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Ironischerweise beginnt Marie d’Agoult ein anderes Geschichtswerk, ihre „Geschichte der Anfänge der Republik in den Niderlanden“, mit einer detaillierten Beschreibung des Raumes, dem typischen Anfang ungebundener Geschichtsschreibung. Sie kann sich das leisten. Sie beweist ja, dass jedes Werk der Geschichtsschreibung einen Anspruch auf Einmaligkeit erhebt, und dass ein Geschichtsschreiber nicht gehalten ist, all seine Geschichtswerke nach einem einzigen Prinzip der Gebundenheit zu schreiben. Glücklicherweise konzentrieren sich aber die meisten auf wenige Werke dieser Art und meiden den konfusen Eindruck, den eine Vielfalt von Geschichtswerken mit sich jeweils widersprechenden Arten der Gebundenheit erwecken könnte. Aschenbach zum Beispiel schrieb in seinen späteren Jahren zahlreiche Romane und andere Prosaschriften hohen Ranges, beschränkte sich aber in der Geschichtsschreibung auf sein Venedig-Werk.

Von den Beispielen, die wir uns gerade vor Augen führen, hätte Dr. Institoris keines mit dem Stempel seines hochwissenschaftlichen Instituts akkreditiert. Obschon die Kampagne seiner Einrichtung seit dem Tode unseres Aschenbachs viele Geschichtsschreiber einschüchterte und die Kunst der Geschichtsschreibung noch diskreditiert, gab es auch in jüngeren Jahren durchaus gewagte Geister wie Golo Mann, die sich in einer Zeit von höchster Anmaßung und Unduldsamkeit der akademischen Geschichtsbesprechung den Weg zur Geschichtsschreibung wählten und öffentlich verteidigten. Golo Manns Wallenstein, eine Biografie und zugleich eine Darstellung des Dreißigjährigen Krieges, gilt als ein ziemlich frisches Beispiel ungebundener Geschichtsschreibung. Wir lesen gern den melodischen Anfang: „Das Dorf Hermanitz liegt im Osten des schönen Landes Böhmen, an der Elbe oder Labe, dort, wo sie nach Süden fließt.“ Auch seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ zählt zu den neueren Erscheinungen dieser Gattung, diesmal gleich am Anfang politisch gebunden: „Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut oder böse waren. Darunter den Staat, darunter die Nation. Sie sollen uns nicht vormachen, dass es anderswo, in Asien und in Afrika, Nationen und Staaten vordem gegeben hätte. Dort werden sie heute gemacht, und nachgemacht, und dort werden die von Europa geprägten Formen als Waffen gegen Europa verwandt. Am Ende ist das nicht ungerecht und keine Demütigung, wenn wir es richtig auffassen.“



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Nachdem wir uns von dieser variety show und ihren teils gloriosen, teils dubiosen Figuren überwältigen ließen, fragt sich womöglich einer meiner Leser, wie es sich mit Aschenbach verhält, welcher Art der Gebundenheit er sich in seiner Wohnung widmete, und ich möchte diesem neugierigen Verlangen selbstverständlich keinen Widerstand leisten. Besteht noch Zweifel daran, dass ein sensibler Mensch wie Aschenbach sich niemals hätte für die Härte der ungebundenen Geschichtsschreibung entscheiden können? Gebunden, liebe Leserin, ist sein Venedig-Werk vom Anfang bis zum Ende – und man fragt noch woran? Aschenbach nahm sich etwas so Edles wie Schwieriges vor, er nahm sich in allem Ernst vor, das Bild eines Menschen in der Agonie zu erfassen, und wir sollen uns nicht einbilden, dass sein humorvoller Stil dem Leser etwas anderes als eine eindringliche Daseinsfrage stellt, eine Frage, die nach einer Bedeutung für die Existenz eines Menschengeschlechts im Angesichte seines Unterganges sucht – vielleicht vergeblich; wahrscheinlich vergeblich. Aber er tut es.

Dieses Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts, das den Niedergang kommen sieht und ihm nichts entgegenzustellen vermag, bietet solch ein undankbares Szenario, dass wir uns fast wundern müssen, dass ein fröhlicher Mensch wie Aschenbach sich mit ihm befasst. Wie denn nicht? Gegen die Osmanen im Osten, Portugal und Spanien im Westen sich mit einer althergebrachten, ozean-unfähigen Flotte zu behaupten, hoffte weder der Adel noch der Klerus, und nicht der letzte Handwerker ließ sich täuschen. Wie lebt sich aber im Bewusstsein des eigenen Niedergangs, was haben die einzelnen Glieder, Stände dieser Gesellschaft einander zu sagen? Aschenbach strebte eine Verfallsgeschichte an, aber eine durchaus differenzierte: Eine Geschichte, die sich an keiner Stelle als exemplarisch darstellte, doch überall, wenn auch ganz bescheiden, nach Bedingungen der Existenz fragte, als ob die Dekadenz, die Agonie des Verfalls in keiner Weise die Ausnahme, sondern eher den normalen Zustand darstellte, wenn man ihn richtig auffasst. Vielleicht deswegen vermitteln Aschenbachs Beschreibungen das Gefühl einer fröhlichen Agonie.



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Die Seeschlacht von Lepanto (in der Cervantes seine Hand verlor) spielt eine zentrale Rolle, insbesondere in der ehrwürdigen Figur des Sebastiano Veniero, dem Aschenbachs größte Aufmerksamkeit galt, und mit Recht, denn diesem Mann in fortgeschrittenem Alter, der die größte Flotte jener Schlacht führte, verdankte Venedig seinen letzten glorreichen Auftritt in der Kriegsgeschichte, einen Sieg, der so gut wie die gesamte türkische Flotte zerschmetterte und Veniero selbstverständlich den erwarteten Ruhm zu Hause brachte, wo er, die Dämmerung einer letzten Hoffnung einstimmig zum Doge gewählt wurde. Aber mit Sieg und Ruhm und Hoffnung ist Venedig und Veniero wenig gedient, wenn ein Jahr nach jener Schlacht, die den Zeitgenossen fast wie ein zweites Actium anmutete, nur ein Jahr nach der entscheidenden Schlacht der Türke und seine peloponnesische Flotte so gut wie auferstanden waren, bereit, in neuen Schlachten zu kämpfen, während die Serenissima, die alle ihre Kräfte in jener einen Schlacht ausgeschöpft hatte, woher sollte sie nun rekrutieren, woher gewaltige Schiffe bauen? Spanien hatte die Welt vor sich und labte sich am erbeuteten Schatze seiner Kolonien, gefolgt von Portugal und seinen Indiengeschäften, man brauchte nur nach Westen zu schauen oder viel weiter nach Osten, um neue Kraft zu schöpfen – aber wohin sollte Venedig nun schauen, wohin sich wenden, Ablenkung finden? Venedig musste dort, in der Härte seines Schicksals ausharren, der Doge wie der Handwerker, und die Pracht der Paläste einer anderen Zeit gewährte nicht länger Trost. Mit diesen kleinen Menschen, die der Schatten einer glorreichen, doch unerreichbaren Vergangenheit noch viel kleiner machte, sie ja fast zerdrückte, mit diesen so kleinen Menschen, ihren alltäglichen Freuden und Sorgen befasste sich Gustav von Aschenbach.



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Man soll mir kein Wort in den Mund legen: Die Darstellung des großartigen Projekts, das Aschenbach verwirklichte, ist tatsächlich nur die Darstellung eines großartiges Projekts, wie es neben ihm auch viele andere gab und hoffentlich geben wird. Ich versuche keinesfalls, Aschenbachs Geschichte zu einem unbedingten Vorbild, dem non-plus-ultra für die Geschichtsschreibung zu erheben, was nicht einmal seinen eigenen Absichten mit diesem Werk entsprochen hätte. Aber das Wagnis, das er sich erlaubt, die Entschiedenheit, mit der er sich gegen aller Erwartungen, Kritik und Widerstand diesem Werk widmete, seinen freien, aber stets bedachten Umgang mit Urteilen, insbesondere in Bezug auf Sebastiano Veniero und seinen adligen Stand, verbunden mit dem erzählerischen Bewusstsein, dies und viele andere Eigenschaften machen aus Aschenbachs Venedig-Werk ein wohl gelungenes, höchst faszinierendes Werk der Geschichtsschreibung. Weil dieses Werk von einem differenzierten erzählerischen Bewusstsein und einem selten gesehenen redlichen Umgang mit Urteilen zeugt, stets darum besorgt, das minderwertigste Detail im Urteil zu rechtfertigen, bleibt das Venedig-Werk trotz einiger überholter Auffassungen eine bereichernde Lektüre, die uns viel über Aschenbach, über seine Kunst und natürlich über Venedig und die Geschichte seines „fröhlichen Verfalls“ offenbart.



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Ob Aschenbachs Geschichte existenziell, gar existenzialistisch gebunden ist oder nur eine allgemeinere Art der moralischen Gebundenheit aufweist, spielt eine geringere Rolle, denn es sollte nicht unser Ziel sein, Gebundenheit systematisch zu katalogisieren. Die lange Einleitung des Venedig-Werkes dient als Beweis dafür, dass die Bestimmung der Gebundenheit nicht immer eindeutig erfolgen kann und nicht einmal erfolgen sollte. Die Reihe von Beispielen, die wir vorhin beobachteten, diente nur zur Darstellung einer Vielfalt der Möglichkeiten, die der Geschichtsschreiber hat. Entscheidend ist, dass Gebundenheit und Rechtfertigung in der Geschichtsschreibung der Gegenstand einer Wahl sind, und dass der Künstlerin also die Freiheit gegeben wird, ihre eigene Gebundenheit zu erarbeiten, statt sich für ein bestimmtes vorgegebenes Muster innerhalb eines Katalogs zu entscheiden, und damit schon fertige Zutaten für ihre Suppe zu stehlen. Eines ist sicher: Wer sich zur edlen Arbeit entschließt, sein Werk vor dem Leser zu rechtfertigen, seine Gebundenheit ausdrücklich zu benennen, übernimmt in demselben Augenblick die Verantwortung, sein Vorhaben konsequent durchzuziehen – denn der Leser ist Richter.



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Ich sollte eigentlich hier aufhören, und ein anständiger Geist hätte genau an dieser Stelle aufgehört. Aber da wir nur unter uns sind und ich keinesfalls die Absicht hege, ein bombastisches Publikum für diese Kleinigkeit zu gewinnen, möchte ich gern etwas Biographisches über unsere Streitfiguren enthüllen, und zwar Vertrauliches. Ich bitte um Diskretion: Kurz bevor Aschenbach den Entschluss zu seiner letzten Venedig-Reise traf, in der er zu unser aller Enttäuschung und Trauer den Tod finden sollte, erhielt er, so hieß es in bestimmten Kreisen, die ich hier nicht näher präzisieren darf, eine, wie soll ich sagen, Korrespondenz, ja einen Brief sollte ich es nennen, vom Institut. Ich halte nichts von Gerüchten und müsste mich selbst bemitleiden, wenn ich meine Tätigkeit dazu gebrauchen sollte, halbe Wahrheiten über Respektspersonen zu verbreiten, aber es hieß, dass Dr. Institoris und anscheinend sogar andere Koryphäen seines Instituts den Verfasser der „Geschichte Venedigs in der frühen Neuzeit“ um eine vertrauliche Unterredung baten. Ich erzähle, ich erzähle:



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Obwohl Aschenbach sich seit der Veröffentlichung seines Venedig-Werks nicht wieder mit Geschichtsschreibung beschäftigte und seine historische Arbeit seit Langem nicht mehr in aller Munde war, hatte sich unter gewissen Jüngern des Instituts etwas wie Unmut eingestellt, den beunruhigenden Eindruck, dass Aschenbach in der Stille seiner Wohnung in der Prinz-Regent-Straße (wo übrigens auch Dr. Institoris wohnte) eine Kreation ans Licht der Welt brachte, die in ihrer begeisterten, wenn auch nicht leidenschaftlichen, Erzählung die Wissenschaftlichkeit höherer Werke wie der gefeierten goldenen Jubiläumsausgabe in ein dubioses Licht stellte. Aber von einem feindseligen Ton war in jenem Briefe keine Spur, im Gegenteil, die Formulierung bezeugte ungewöhnliche Freundlichkeit. Der genaue Inhalt des Dokuments ist mir nicht bekannt, aber das Institut, wie einige aus Aschenbachs letzten Aufzeichnungen wissen, spielte mit dem Gedanken, den Verfasser des kontroversen Venedig-Werks vor eine erlauchte Auslese von Jüngern zu stellen, um Fragen über die Entstehung, die Methode, aber auch die Berechtigung seiner Geschichtsschreibung zu beantworten. Die inquisitorische Dimension des Anliegens war deutlich zu erkennen.



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Wie es nicht anders zu erwarten war, sah sich Aschenbach vor einem Dilemma, denn eine mögliche Einladung abzulehnen, würde ihn als einen höchst arroganten Menschen entpuppen, auch wenn er aus Bescheidenheit handeln sollte, während die Annahme ihn gewiss vor eine unangenehme Situation, die Berührung mit dem alten Institut, seinen Vorurteilen wie Verurteilungen stellen sollte. Es überraschte jener Tage seine Freunde, ihn auf qualvollen Spaziergängen am späten Abend zu sehen. Aschenbach nahm also nur das Angebot einer vertraulichen Unterredung mit Dr. Institoris an, und alles Weitere sollte sich abhängig vom Ergebnis dieses Treffens gestalten. Dies schien Dr. Institoris recht. So empfing er Aschenbach in seinem generösen Raume voller Renaissance-Statuen und altertümlichen Büchern, und Aschenbach ließ sich gern durch die Räumlichkeiten führen, die in der Tat viel Wertvolles von der Geschichte wie auch der Kunst der Renaissance bargen. Die Tür schloss sich aber geschmeidig und leise, und ein ganzer Nachmittag verging in einem ausführlichen Gespräch. Wenige Tage später fuhr Aschenbach nach Venedig.