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Richard Scharten


Georg Solz





© Gregorius Vatis Advena 2011, Record P 2, Engl. Richard Scharten, September 2010 to December 2011, Hamburg, novella, German. This is an extract only.




Drei Essays über Geschichte

Einleitung


Es ist Herbst 1849 in Hamburg: Die politischen Ereignisse überschlagen sich mit Gewalt und Revolution. Ungeklärte Mordfälle beunruhigen die Öffentlichkeit. Senator Richard Scharten erkennt die gefährliche Lage. Wird es ihm gelingen, die Morde aufzuklären und die alte politische Ordnung zu retten?


Richard Scharten behandelt an einem historischen Beispiel die Legimität von politischer Gewalt. In Zeiten populistischer und autoritärer Strömungen hat das Thema eine zentrale Brisanz. Das 19. Jh. und seine alten Debatten über Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie treten dramatisch wieder zu Tage.




Hintergrund mit leichtem Regen im Wald.




Die Sprache der Novelle passt sich einem bürgerlichen Drama an. Sie ist feierlich, gebieterisch und so unzeitgemäß wie der Erzähler. Die Auferstehung einer zuweilen unerträglich melodramatischen Sprache widerspiegelt die Unerträglichkeit der Verhältnisse, die sie schildert.










I.


Über Einzelheiten dieser Ereignisse muss ich schweigen, denn nicht alles darf erfahren werden. Ich halte es für eine große Gefahr, gewisse Namen zu erwähnen, da ich das Ende jener sah, die das Rätsel zu lösen versuchten. Ich kenne fürwahr kein Evenement in all den Jahren, welches das öffentliche Leben in Hamburg so beunruhigte, und es wird keine Übertreibung meiner Feder sein, wenn ich behaupte, dass die Sache Jung und Alt, ja Reich und Arm ergriff. Ich war zu jener Zeit ein junger Bursche und hatte zu wenig von der Welt erfahren, um solch aufwühlende Geschehnisse mit Ruhe zu verfolgen.

Nach so vielen Jahren des Schweigens seine Kräfte sammeln und Bekenntnisse schreiben, müde wie ich bin an meinem Schreibtisch – kann das gelingen? Ich habe vergeblich gehofft, dass die Zeit die Erinnerung lindert, ich habe gelebt und gewartet – wer weiß, ob es nun ein wenig tröstet, meine Erinnerungen auf das Papier zu bringen ...

Es wäre naïv zu wähnen, dass die Schmerzen jener Zeit durch diese vorsichtigen Bekenntnisse ihre Erklärung finden werden, und ich möchte keine Kriminalgeschichte erzählen. Aber die Welt muss erfahren, was sich bei uns zutrug, und ich weiß, dass meine Erinnerungen, gerade die meinen von Belang sind, insbesondere, was die Rolle eines bestimmten Mannes in dem Unheil betrifft.



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Meine erste wahre Begegnung mit der Angst erlebte ich vor vielen Jahren im September 1849. Ich befand mich eines Nachts auf dem Weg nach Hamburg, an einer jener dunklen Stellen im Walde, wo man die eigenen Hände kaum erkennt. Es begann mit dem Tier, meinem treuen nimmermüden Pferd, das plötzlich scheute. Vergeblich versuchte ich, wie bei erfahrenen Reitern üblich im Sattel zu bleiben, den Kopf des Tieres zu zügeln und in ruhigem Galopp zu reiten. Mit Gewalt gegen das Tier wäre mir nicht gedient gewesen. Es blieb nichts anderes übrig, ich musste absatteln. Aber wohin mich wenden? Lübeck, der Ausgang meiner Reise lag zu weit entfernt, so weit wie Hamburg, und da stand ich, hilflos unter dem Dunkel der Bäume verlassen, ratlos vom Nebel verdammt, durch das Ungewisse zu schreiten. Angst vor der Nacht? Die Nächte meines Lebens hatten mich Gefilde von Sternen und Träumen erblicken lassen. Es erging mir oft derart, dass selbst die tiefste Angst im Schatten blieb und auf meinen Lippen ein leichtes Lachen zurückließ, sobald ich erkannte, wovor ich mich fürchtete. Die wahre Angst gedieh nunmehr auf dem Boden des Unbekannten, eines gewaltigen Waldes mitten im Nichts, in einer Gegend, in der keine Laterne leuchtet. Was macht ein verlorener Mann in solchem Wald? Sich auf den Boden werfen und warten, bis die Nacht vergeht? So weit sich ducken, bis der ganze Leib sich in eine Nuss-Schale hinein fügt?



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Wer sich nie in einem Wald verlor, weiß nicht viel vom Leben. Das Pferd wieherte und mich dünkte, ich könnte Gestalten erkennen. Ich begann, die Geräusche der Nacht zu vernehmen – das schnelle Rascheln des Laubes, fliehende Echsen, Schlangen, verborgene Kräfte; oder das Reich des Übersinnlichen, den Schwanz eines Teufels, nie zur Ruhe gekommene Geister mit klirrenden Ketten; oder lauernde Mörder, grausam, den Dolch in der Hand. Oft hörte ich Berichte über Reiter, die nicht aus dem Walde heimkehrten, über Leichen von Frauen und Kindern ohne Zähne, fehlende Glieder und Köpfe, Gräueltaten mit Keulen, mitunter mit Fäusten und zerfleischenden Bissen. Vor Jahren hatte die Polizei unter den Wurzeln einer Trauerweide dreizehn Truhen mit Knochen und zerstückelten Schädeln gefunden, das Werk eines stillen, nie gefassten Mörders. Im Nebel erkannte ich es plötzlich: das weiße, graue Gewand. Als der Schauer meine Adern vereiste, mündete die Furcht in eine Erscheinung, unvergesslich wie schrecklich, die meinen Leib vom Fuß bis an die Haare lähmte – einen dunklen Kutscher, einen gigantischen nahenden Schatten.



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Ich vermochte erst nach unbeschreiblicher Anstrengung mich wieder zu bewegen, um nach einem Versteck zu suchen. Aber die Nacht lässt sich nicht nur erblicken. Sie lässt sich berühren. Wie Hände griffen mit jedem Schritte Äste und Blätter nach meinen Schultern und mit jedem Schritte wuchs die Furcht, dass einer jener Äste eine wahre Hand verbergen möge. Bei starken Schlägen schrie ich unwillkürlich – nur die Stimme versagte, verschluckt von maßlosen Herzschlägen. Als mein Fuß sich weit entfernt vom dunklen Fuhrmann meinte, stieß er auf einen Stoff, der sich weicher und leblos anfühlte. Ich schreckte zurück, ich neigte mich und starrte in den Nebel, bis der ihn durchdringende Blick den Boden des Geheimnisses erreichte. Im Gipfel meines neuen Bangens zeigte sich des Rätsels Lösung. Der Anblick der verkrümmten Leiche hätte den Wackersten verwirrt. Die Augen fehlten. Ein dunkles Loch, der offene Mund schrie nach seiner Seele, aus dem Leib gewaltsam herausgetrieben. Trockenes Blut bedeckte die Lippen. Bohrungen und Wunden auf dem Gesicht zeugten vom Picken gefräßiger Vögel. Ich hielt es nicht für möglich, eine bloße Farbe zu fürchten, und dennoch war die Haut zu einer faulen weiß-gelblichen Tönung erblasst, die mich an nichts zuvor Gesehenes erinnerte. Das Bildwerk des Todes könnte ein Soldat gewesen sein, aber der Nebel verbot mir die Untersuchung der Kleidung, ganz zerfetzt. Diese Stoffe mit der Hand zu berühren, hieße am Tode teilzuhaben – nicht an einem bestimmten Tode, nein, sondern am allumfassenden Besieger der Wesen, so als ob er durch die Berührung mit den Fingern gar ansteckend wäre. Den Tod berührt man nicht.



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Ein Blick auf mein Pferd und abermals zum Boden genügte aber, um die Erscheinung aus den Augen zu verlieren. Ich starrte in den Nebel hinein und zu meinen Füßen lag nur noch das Laub. Wo blieb die Leiche? Zum Gefühl des Ungeheuren mischte sich ein Drang, ein innerer Schrei: Verschwinde! Ich stieg aufs Pferd und hub langsam an, auf dass mein armes Tier, die Feueraugen weit geöffnet, nicht wieder scheute. Aber das Unermessliche – das Bild des dunklen Kutschers, den langen Zylinder, den fliegenden schwarzen Mantel zwischen den Schatten – verfolgte mich. Je weiter entfernt ich mich sah, je näher schien die stille Kutsche zu fahren, Gestalten hervorbringend, die Stimme des Todes hinter mir. Des Nachts ist jeder Wald ein Rätsel.

Senator Richard Scharten, mein Herr und Auftraggeber wartete auf mich und es bot sich dem Reisenden kein besserer Weg. In Holstein, noch von Dänemark verwaltet, durften wir keine Gleise für die neue Eisenbahn verlegen und der Wunsch nach einer solchen Verbindung war noch nicht erwacht. Die Begegnung mit dem Tode endete erst, als ich in ein breites Feld gelangte, dort, da das Sternenzelt noch prangte. Das blasse Licht, das mein Auge aus der Ferne zu erkennen glaubte, ließ mich Hamburg erahnen.



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II.


Aus dem Bericht, den Richard Scharten mir abzwang, folgerte er nur: »Diese Reisen tun Ihnen nicht wohl.« Auf dem Weg zum Landhaus meines Dienstherrn bedachte ich sorgfältig, durch welchen Ausdruck, wörtlich oder stillschweigend, das Geschehnis vorzutragen sei. Die Welt schenkt der Angst keinen Glauben und eben dieses ist das Ziel und das Geschick der Angst: Man fürchtet sich allein. Ich betrat jenes dunklen Morgens den kleinen Salon, um dem vor einem Fenster sitzenden Manne Briefe zu überreichen. Ein Blick auf mich genügte dennoch, um mein Unbehagen zu erkennen – sei es durch meine Unruhe verratenden Augen, sei es durch die seinigen, die bitter-braunen. Senator Scharten – ich nenne ihn Senator, obgleich die amtliche Bezeichnung Ratsherr hieß – pflog eine gestrenge Art, uns arme Menschenkinder anzustarren, wenn ihn dünkte, man gedenke ihm Neues vorzuenthalten. Den meisten bereiteten seine Pupillen ein gemischtes Gefühl von Furcht und Achtung und mir schien, dass sein schweigsames Wesen einen Vorwurf gegen mich hegte.

Herrn Schartens Umgang mit Furcht einflößenden Schilderungen zeigte sich durch ein geduldig aufmerksames Zuhören, gefolgt von einer auffälligen Stille, die den berichtenden Mund in einen recht peinlichen Zustand versetzte – einen unendlichen Ablauf unmöglicher Worte.



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»Eine merkwürdige Erscheinung«, hub er an, einen Halt nach jeder Silbe der Deut-lich-keit zuliebe, und schüttelte rasch entschieden den Kopf, während die Hand ein Zeitungsblatt wendete. Ein müdes Seufzen folgte: »Ein Soldat, sagen Sie? Woher denn? Sie glauben nicht, dass dänische Soldaten in diesem Wald etwas verloren haben. Preußen? Nach dem Malheur der letzten Monate? Nein nein, Sie haben keinen Soldaten gesehen. Das war Laub!«

Ein mich herabsetzendes Lachen konnte Herr Scharten nicht unterdrücken. Um dem rot-beschämten Dienstboten ein Entgegenkommen zu gewähren, fügte er aber hinzu, dass Laub sich schnell zusammenhäufe: »Feuchtigkeit macht es noch schwerer. Wo viele Bäume sind, ist es bekanntlich schon am Nachmittage dunkel und nirgends regnet es so viel wie bei uns. Wenn Sie demnächst reisen – hoffentlich wird es nicht mehr dazu kommen – meiden Sie das nächtliche Reiten. Sie werden müde und müden Augen ist jedes Bild erdenklich!«

Einen einzigen Satz behielt ich: »Hoffentlich wird es nicht mehr dazu kommen.« Es fehlte, schien mir, nicht viel, bis der Dienstherr sich meiner Dienste entledigte, um sich eines besseren Boten zu bedienen. Ich erblickte die Feder auf dem Tisch und schrieb damit eine sofortige Entlassung auf die Blätter meines Wahnes. Herr Scharten verstand es, sich mit der Schrift zu beschäftigen, aber kein Menschenauge erfuhr, was die dem Schreiben frönende Hand zu Papier brachte. Zahl und Wort war dort vermischt, gedruckt wie handgeschrieben – unleserlich.



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Als ich meinen Fehler zu gestehen gedachte, um nicht als stolz-trotziger Bursche den Raum zu verlassen, unterbrach mich Herr Scharten mit einem lauten Stöhnen: Es war die Zeitung. Der Senator schüttelte den Kopf, lachte verlegen und blickte immer wieder, zum letzten Mal sogar mit der Brille, hastig aus einer unteren Schublade herausgenommen, auf die Nachricht. »Das ist unmöglich!«, sagte er empört.

»Sie haben den Tod gesehen, junger Mann, während seine Sense hier bei uns ein Opfer dahinraffte – letzte Nacht – innerhalb der Stadttore – zwei Dolchstöße!«

Was hatte jene Tat mit der Erscheinung im Wald zu tun? Ich hörte einst am Vaterhof über Menschen mit einer Art zweiter Sicht, der Gabe zu sehen, was sich Meilen weit entfernt zutrug. Ich wagte dennoch nicht zu erwarten, dass ich mit solchen Reden bei meinem Dienstherrn einen besseren Eindruck machte. Was ich tatsächlich vor mir sah, war ein verstörter Ratsherr, der sich um den geistigen Zustand seines Dieners sorgte.

»Hoffentlich wird es nicht mehr dazu kommen.« Der Satz spukte fortwährend in meinem Kopf. Wenn Richard Scharten gewusst hätte, woher ich kam und welche Gedanken mich angesichts der Zukunft plagten, hätte er eine mildere Wortwahl getroffen? Ich verbrachte meine ersten Jahre auf dem Bauernhof meines Vaters. Die Erinnerungen reichen bis zu den Tagen zurück, da ich jauchzend über die Felder lief, um die Sonne vor dem Untergang zu retten. Eines Abends blickte mein Vater auf die Unseren und sprach, bevor der Tod ihn ereilte:



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»Achtet darauf, dass ihr das Werk vollendet. Die Felder sind bestellt und keine Schande ist es, seine Hände zu rühren, um fremden Hunger zu stillen.«

Es folgte die Missernte, die den Hunger über die Türschwelle brachte, und mit dem Hunger wuchs im ganzen Lande der Unmut, bis der Aufstand in Schleswig und Holstein, der Krieg gegen Dänemark ausbrach. Damit war meines Vaters Feldern, tot und blutbefleckt, noch weniger gedient. Das Schicksal bedarf keiner langen Zeit, wenn es sich vorsetzt, ein Menschenleben zu stürzen. Wir zogen nach Hamburg, denn dort lebte, glaubte meine Mutter, ein großzügiger Pastor, welcher der Familie in schlechten Zeiten beigestanden.

Dort ließen wir uns in einer Vorstadt nieder, in einer schmalen Gasse mit stinkenden Rinnsteinen, die den Ankömmlingen nichts als Kälte bot, bis meine Mutter ungeachtet des klagenden Leibes zu nähen anfing. Noch nie war in diesen Ländern eine solche Teuerung von Weizen und Roggen erlebt worden. Welche Hoffnung glomm in uns, das alte Land zurück zu kaufen, nachdem auch meine zwei Brüder das Haus verlassen hatten? Der eine gelangte auf Schiffe und verdiente seinen Lohn als Matrose, bis die See im Sturm ihn ertrank. Der andere pflog in St. Pauli seine Freundschaft mit dem Nachtleben.



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Die neue Gesellschaft von Frauen, in der meine Mutter verkehrte, unterhielt eine gemeinsame Kasse, gefüllt mit kleinen Münzen und Hoffnungen, um notfalls ein verhungerndes Leben zu retten. Der kühne Kreis erlaubte sich privatim, die Fragen, die Hamburg seit dem großen Brande beschäftigten, frei und offen zu besprechen – insbesondere das Armenwesen, da das Hab und Gut nicht weniger jener Frauen in Flammen aufgegangen und ihnen nach all den Jahren keine Bleibe vom Himmel geschenkt worden. Aber auch Gestalten aus oberen Schichten, vom Geist der milden Tätigkeit entflammt, gesellten sich. Ich erfuhr ihre Gunst. Gelegentlich ward ich als Kutscher beschäftigt – eine schier aussichtslose Lage, die meine Liebe zu Pferden allerdings erträglich machte.

Jener Tage bestellte eine Witwe aus der Stadt ein aufwendiges Kleidungsstück bei meiner Mutter, dieweil der Mund sanft zu sich selbst sprach: »Das braucht Emma.« Die ruhige Gestalt warf einen verlorenen Blick auf einzelne Gegenstände, einen Stuhl, ein Fenster, und die Falten ihres Gesichtes ließen mich eine bis dahin unergründete Ernüchterung erkennen.



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Schon in den ersten Gesprächen mit meiner Mutter, die eine Begabung besaß, ihr ganzes Leben augenblicklich zu erzählen, erfuhr die schweigsame Frau über mich, und so trat Adelia Kirsch in mein Leben ein. Die einstige Freundin Cordelia Schartens, des Senators zweiter verstorbener Ehefrau, überbrachte meiner Mutter die Nachricht, dass ein vornehmer Herr einen verständigen Mann für seinen Haushalt suchte. Meine Mutter wurde fast aufdringlich.

»Hoffentlich wird es nicht mehr dazu kommen.« Noch schwang der Satz in meinem Kopf und noch stand ich vor dem Ratsherrn, als ich wieder die Feder erkannte und mich einer Wohltat erinnerte. Richard Scharten veranlasste, dass ein Lehrer seiner Tochter, Alfred Keiler, mich in der Kunst der Schrift unterrichtete. Ich verspürte den schuldigen Genuss eines lern-trägen Bauernsohns, dem ein seinem Stande unübliches, vielleicht unverdientes Ausmaß an Bildung zuteilgeworden. Und dennoch war es schön, zusammen mit dem Lehrer, seinen tiefwirkenden Gebärden und gepflegter Wortwahl zu sitzen, eine eigene, geläufige Schrift aus meiner Feder zu gebären, sie gedeihen zu sehen und einen Teil von mir selbst auf den Blättern erblühen zu lassen. Alfred Keiler verdanke ich die Tatsache, dass ich diese Bekenntnisse zu Papier bringe.



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Von jeher wohnten die Schartens in einem stattlichen Haus in der ABC-Straße, einem Denkmal der älteren Bauweise, das Richard Scharten, von zwei Ereignissen bewogen, vor wenigen Monaten verlassen hatte. Zum einen hatte der große Brand die baulichen und politischen Schwächen der Stadt offenbart, zum anderen hatten sich die Unruhen der Zeit an dem eitlen Gebäude vergriffen, an den Fenstern, die während der Märztumulte eingeworfen wurden. In einer Zeit, da um die Außenalster nur die Slomanburg als winterfestes Haus sich über die Wipfel der Bäume erhob, beauftragte Herr Scharten Alexis de Chateauneuf, einen der größten Architekten des Jahrhunderts, mit dem Umbau seines Sommerhauses, damals noch auf unbewohntem Landgebiet unweit des alten Klosters. Die Bedenken anderer Ratsherren, dass ein solcher noch nie gesehener Rückzug angesichts der gespannten Lage unschicklich sei und mit höchster Missbilligung aufgenommen werde – wie der rege Pressetadel es später bestätigte –, bekümmerten Herrn Scharten nicht.



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Eine lebendige Erinnerung gilt dem Tage, da Adelia Kirsch mich zum ersten Mal zu Richard Scharten, dem hochbetagten Freunde führte. Draußen war Mai und die Sonne verwandelte den Garten in ein gold-gleißendes Eden. Selbst der Wind, die kalte Strömung gegen des Reiters Antlitz fühlte sich sanft an und genehm. Im Warteraum verstrich eine Ewigkeit. Zwei Landschaftsgemälde erinnerten mich an meine Heimat. Eines zeigte auf den heiteren Himmel mit Wolken, unten ein hügeliges Feld mit Schafen, in dessen waldigem Hintergrund, schön und weit vom Auge entfernt, ein Schäfer mit Kindern verweilte. Als ich sodann das zweite Gemälde betrachtete und dort ein Weizenfeld erkannte, unbeschreiblich mit bloßen Worten, da musste ich meines Vaters gedenken und mir schien im träumenden Taumel, dort sei er leibhaftig. Doch Träumende werden allzu bald aus ihrem Traume zurückgeholt. Die geheimnisvolle Türe zum Empfangssaal öffnete sich und die Sonne drang in den dämmrigen Raum hinein.

Meine Augen hatten noch nie auf so vielen Gemälden verweilt. Eine Reihe prächtiger Portraits, deren bloße Rahmen bereits einen Eindruck machten, zeigte des Ratsherrn Vorfahren, ein Jahrhunderte altes Geschlecht in ungeheurem Ernst zur Abbildung gekommen. Die Augen lebten und starrten mich an. Es war bedrückend. Die Spiegel bewirkten, dass der Raum noch breiter aussah. Blumen und Landschaften, hie und da abgebildet, stellten die einzige Heiterkeit dar – hier ein Gebüsch, ein Strauß, dort das Meer. Links zwischen den strengen Holzmöbeln erblickte ich ein Klavier und rechts sollte ich später eine Bibliothek entdecken. Alle Fenster blickten auf hohe Bäume und eine weitere Türe gab uns den Garten.



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Richard Scharten, die Zeitung auf dem Schoße, trieb das Gespräch ins Unendliche. Menschen seiner Art nehmen die Zeit anders wahr, mit der unvergesslichen Verachtung, mit der er an jenem Tage ein einziges Mal die goldene, aus der Tasche herausgeholte Uhr betrachtete, um dieselbe mit siegreicher Miene wieder zu versenken. »Fahren Sie fort, wir haben ja Zeit!« Der Ratsherr kannte die Lebensgeschichte aller, die seiner Familie im neuen wie im alten Jahrhundert gedient hatten. Ich stillte seine Neugier, indem ich über meine ersten Jahre erzählte, bis der Ratsherr einmal gähnte und mich bat, mich abermals in den Warteraum zu begeben. Es folgte ein Gespräch mit Frau Kirsch. Ich gehörte, dachte ich mir, gar nicht in diese Welt, ich wusste mich nicht aufzuführen. Was hat ein Mann meines Ranges von solchem Herrn zu gewärtigen, welche Behandlung außer der Zurückweisung, mit müdem Wink erteilt? Die milde Frau Kirsch kam heraus und drückte mir die Hände. Am nächsten Tage trat ich zur Arbeit an.